Wenn er mal nicht der stille, unauffällige Junge war, dann herrschte ihn der Vater an „reiß‘ dich zusammen, mach uns keine Schande, wir wollen ja nur dein Bestes, was sollen die Leute sagen“. Bei ihm konnte er keine Unterstützung und Hilfe für sich finden. Da er bei der Mutter und dem Vater keine Geborgenheit, Halt, Schutz und Trost finden konnte, im Gegenteil sie sogar Auslöser seiner Probleme waren, suchte er Geborgenheit bei der Großmutter. Großmütter sind häufig toleranter, da sie nicht so unter dem Erziehungsdruck stehen, ein bestimmtes Bild zu erzeugen, und mehr Abstand haben. Aber bei ihr musste er sich ständig ihre negativen Männerbilder anhören “ die Männer sind alle Verbrecher, Säufer und Vergewaltiger. Und so einer sollte er nicht sein!“ – eine neue Überforderung und Entmannung, weil es ihm dadurch verboten war, sich an Frauen heranzumachen.
Die Schande prägt sozusagen in einer transgenerationellen Überlieferung die Nervenzellen, die Neurone, und die vielen millionen-, milliardenfachen Verästelungen des Netzwerkes. Den Eltern und Großeltern usw. war es auch nicht viel anders als dem Kind ergangen. Man kann also von einem körperlichen Vorgang, von einer körperlichen Vererbung, sprechen. Dies wird in einer eigenen Wissenschaft festgehalten, der Epigenetik, wo von der Abschaltung und Einschaltung der Andockfunktion der Gene die Rede ist. Die Schande wird also reflektorisch und automatisch in den Genen der Nachfolgegeneration hervorgerufen.
Infolgedessen gingen in der frühen Kindheit die Verspannungen und die Schmerzen der Mutter voll in ihn über, wie das bei Kleinkind in der Regel der Fall ist, und er bekam die Schmerzen mitgeteilt als seine eigenen Schmerzen. Daraus entwickelte sich eine Tendenz und Labilität zu Schmerzen. In der Nachfolgephase der Entwicklung, als sein Gehirn schon halbwegs geprägt war, ging der Glauben der Eltern in ihn über, so dass er selbst an seine Schande glaubte. Die großen Eltern haben gegenüber dem sehr kleinen Jungen die Definitions- und Deutungshoheit. Dies alleine schon zeigt der Größenunterschied. Also stellte er in seinen Augen und den Augen der Eltern seine Existenzberechtigung infrage. Sämtliche Glaubensinhalte der Eltern waren für ihn ein Automatismus infolge dieses körperlichen Vorgangs. Automatisch lehnte er sich gegenüber seinen Eltern nicht auf, war sozusagen ein braver Junge. Ein derartiger Vorgang ereignet sich in vielen Familien.
Daß er immer brav und unauffällig sein sollte, rief in ihm untergründig ständig Trotz, Wut und Protest hervor, den er jedoch unterdrücken musste, weil er selbst glaubte, dass er brav und folgsam sein müsse. Der Trotz ist ein automatischer Vorgang, und er dient der Selbstbehauptung. Der Trotz und die Wut wurden infolgedessen auf die untere, unbewusste Ebene verlagert, und er musste ständig infolge seines Bravseins wütend sein. Wenn er mal auf begehrte, traf ihn sofort der schmerzvolle Blick der Mutter und der Vater ermahnte ihn „reiß dich zusammen“, so dass er weiterhin brav war. Da die Mutter jedoch ständig ein Aufbegehren von ihm fürchten musste, war sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und erwartete zitternd vor Angst von ihm einen Widerspruch und einen Wutausbruch. Dadurch erhielt er Macht über die Befindlichkeit der Mutter. Der Ängste der Mutter gingen in ihn als seine Ängste über, und er zitterte mit der Befindlichkeit der Mutter, und er übte gleichzeitig Macht über sie aus.
Der kleine Junge war sozusagen Herr der Mutter. Das hatte ein Größenbild und Allmachtsgefühl, das Gefühl und der Glaube von der eigenen Großartigkeit, zur Folge, die eine Kette von widersprüchlichen Gefühlen auslösten.
Im Werdegang eines Menschen sieht sich der kleine Säugling im Mittelpunkt der Welt, das sozusagen normale Größenbild in der Frühphase des Lebens. Erst im Nachhinein in der weiteren Entwicklung muss er feststellen, dass die jeweiligen Bezugspersonen ihren eigenen Willen, eigene Gefühle und Befindlichkeiten haben, für die er Empathie haben kann. Diese müssen jedoch sanft mit Verständnis und Einfühlungsvermögen ihm beigebracht werden, damit er sie akzeptieren und sich auf sie einstellen kann. Sein eigener Willen ist durch Wutausbrüche der Eltern, Misshandlungen und ihre Gebote und Verbote sehr gefährdet. Wenn jedoch, wie in diesem Fall, sein eigener Willen ignoriert und sogar unterdrückt wird, bleibt bei ihm das Größenbild erhalten. So wie ihm in der Kindheit keinerlei Verständnis und Mitgefühl entgegengebracht wurde, so wird er für seine Mitmenschen kein Gefühl haben und sie dementsprechend behandeln. Die Grenzen und die Eigenständigkeit von Menschen werden aufgehoben, denn dazu gehört Empathie und Einfühlungsvermögen. Wenn er sogar noch unbewusst dazu verführt wird, Macht über seine Eltern zu haben, wird das Größenbild umso mehr erhalten. Er ist nicht in der Lage, im Angesicht von anderen Demut und Bescheidenheit in sich zu tragen, an sich höchste Tugenden, wie sie in den Kirchen und Religionen gepflegt werden.
Es geht sein Differenzierungsvermögen verloren, die Unterscheidung zwischen ihm und den anderen und von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, oder es wird gar nicht geschaffen. Die Sichtweise der Schande gilt in der Vergangenheit, in der Gegenwart und immerwährend in der Zukunft. Dabei wird ein hoffnungsloser Zukunftsentwurf geschaffen.
Es ist jedoch zur Selbstverleugnung geradezu erzogen worden. Er dürfte ja kein normaler Junge und normaler Mann sein. Wenn er sich nicht selbst verleugnete, rief das bei ihm Schuldgefühle hervor, sozusagen an den Schmerzen der Mutter schuldig zu sein. Aber unter den Bedingungen des verinnerlichten Größenbildes nahm diese Schuldgefühle großartige Ausmaße an. Dazu kommt die Scham, dass er nicht genügend Mumm besaß, um seinen eigenen Standpunkt aufrechtzuerhalten und gegen die Eltern sich wehren zu können. Da ihm jedoch dies alles mit der Muttermilch, so zu sagen unbewusst und automatisch vermittelt wurde, und da eine dritte Person fehlte, die ihm etwas anders vermittelt haben könnte, im Gegenteil der Vater noch am Strang der Mutter zog, war er diesen Inhalten der Scham und Schande sozusagen hoffnungslos ausgeliefert. Es blieb ihm nichts anderes übrig als diese Inhalte zu verleugnen. Das verstärkte in ihm Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem verinnerlichten Bild der eigenen Großartigkeit.
Wenn er zu einem lebendigen und lebensfrohen Jungen herangewachsen wäre, dann hätte es den Neid der Mutter und des Vaters erzeugt, weil sie nicht so ohne weiteres lebensfroh sein konnten. Wenn sie jedoch nicht durch das Vorbild ihres Sohnes gelernt hätten, dann hätte es in ihnen Missgunst hervorgerufen. Er hätte dann ihrem Zorn noch verstärkt, ein Heruntermachen und eine Verschärfung der Gebote und Verbote befürchtet, und dadurch ewig Angst vor den Neid der Mutter haben müssen – eine ewige Angst.
Jedoch hinter dieser Hilflosigkeit wurde bei ihm Wut, Trotz und Widerstand erzeugt. Dies blieb jedoch auf der unteren, unbewussten Ebene, war aber dennoch in Verspannungen und Verkrampfung für ihn spürbar. Diese Verspannungen hätte er ernst nehmen sollen, da es ein unbewusster Teil und eine Selbstbehauptung von ihm war, und diese führten ihn zur Therapie. Es war also bei aller Ohnmacht und Schuldgefühlen bei ihm immer untergründig eine Wut dabei, sozusagen als Reflex, Mechanismus und Automatismus. Und dieses musste von der Mutter allzeit gefürchtet werden, deswegen allzeitig ihr schmerzender Blick.
Die Kette geht jedoch noch weiter, da er für seine Folgsamkeit und Bravheit eine Honorierung und Belohnung erwartete, die jedoch ausblieb, da sein Bravsein von den Eltern als selbstverständlich betrachtet und zur Verhütung der Schande als unumgänglich betrachtet wurde. Diese Selbstverständlichkeit ging in ihn über, wurde von ihm verinnerlicht, aber auch die Wut über die ausgebliebenen Belohnung und die noch zu erwartende und enttäuschte Honorierung, all das auf automatischem Niveau.
Andererseits war es ja seinen Eltern eine Generation zuvor ähnlich ergangen wie ihm. Ihre Angst, Depression und Schmerzen ging als Automatismus in ihn über, und gleichzeitig forderten und erwarteten sie von ihm eine Selbstbehauptung, die für sie eine Erlösung bedeutet hätte. Eigentlich fand sich diese Selbstbehauptung im Trotz wieder, der jedoch verboten war. Der Vater (und die Mutter) und der Sohn wünschen sich durch den Geist dieser Selbstbehauptung errettet und erlöst zu werden, der Geist, der all dem zu widersprechen wagt und den Eltern klar macht, dass Widerspruch sich lohnt und dass die Geburt eines Sohnes nicht eine Schande ist und wieder gut gemacht werden muss. Der widersprechende und trotzige Sohn ist also in hoch ambivalenter Weise ihr eigentliches Ziel. Das ist in der christlichen Kirche sozusagen Glaubensinhalt, die Dreifaltigkeit Gottes, der Heilige Geist bildet sozusagen ein Bindeglied zwischen Vater und Sohn. Damit ist er wohl aber völlig überfordert auf der automatischen Ebene und reagiert ebenfalls mit Verspannungen und Schmerzen.
Da sich die Eltern, Mutter wie Vater, mit ihrem Sohn in der traumatisierten Familie unaufhörlich im Kreise drehen, entsteht dadurch ein Zirkulus vitiosus, wie es in der biblischen Schöpfungsgeschichte durch die Erbsünde dargestellt wurde, die wiederum durch den den Sohn und dessen Geist auf eine Erlösung wartet. Mythen sind sozusagen Gleichnisse und Parabeln von Fakten der realen traumatisierten Familie.
Wenn er jedoch im späteren Leben Wertschätzung und sogar Liebe erfährt, dann passt es nicht in sein Weltbild, in die vielen Vernetzungen und Verästelungen, er kann es nicht glauben und bezichtigt den anderen der Lüge. Oder er unterstellt ihm andere Absichten, dass er zum Beispiel noch lieber und braver zu sein hätte, also sich anzupassen und um ihn auszunutzen. Ausgenutzt zu werden bedeuten für ihn eine erneute Demütigung und erzeugen in ihm Wut. Dann hat er wiederum innerhalb seines Weltbildes recht gehabt und, die Welt ist grundsätzlich böse.
Auch wiederum legt dies seine Bedürftigkeit und seine tiefsten Wünsche nach Anerkennung und Wertschätzung offen, die gar nicht in sein Größenbild hereinpassen. Seine Wut und Zorn und die Wand des Trotzes legen sich darüber und versperren ihm alles. Dabei wäre er ruhig und friedlich, wenn er anerkannt wäre und alles wäre ganz einfach. Aber wenn er nicht daran glaubt, dann bleibt ihm lediglich die Hoffnung als Lebenskraft.
Eine frühkindliche Traumatisierung ist wesentlich schwerwiegender als ein späteres Trauma wie etwa Kriegserlebnisse, Krankheiten von einem selbst oder von Familienangehörigen, Verkehrsunfälle oder Gewalterfahrungen, Naturgewalten und Vergewaltigung. Da der Erwachsene selbst daran glaubt, und daran beteiligt durch sein Verhalten ist, ist er selbst daran schuld, obwohl er unschuldig da hineingeboren wurde. Er wird zum Komplizen seiner Mutter und seiner Eltern. Sexueller Missbrauch findet häufig in Familien in der frühen Kindheit statt, und ist deswegen besonders als schwerwiegendes Verbrechen angesehen. Die Folge von allen Traumatisierungen sind viele Krankheiten über die gesamte Krankheitspalette.
Wenn die Mutter wenigstens nicht mit schmerzenden Augen, sondern mit strengem Blick oder mit Wut reagiert hätte, hätte er direkt mit Wut reagieren können. Das wäre für ihn eine Befreiung gewesen, aber nur, wenn er nicht völlig runter gemacht und platt gemacht wird. Aber in dieser Familie war es üblich mit der sanften und unterdrückten Art, mit eigenen Schmerzen zu reagieren. Das ist noch eine viel stärkere Kraft. Die Macht durch die Schwäche. Viele Eltern interpretieren das Überschreiten ihrer Gebote mit einer Absicht des Kindes, es hätte das extra gemacht, um die Eltern zu ärgern, weil es so in ihnen ist. Dann bleiben ihm wenigstens Argumente, das richtig zu stellen. Aber all diese Vorgänge sind auf einer sprachlosen Ebene.
Im Grunde führt die Traumatisierung zu einem veränderten Wertesystem, das über Generationen nur schwer zu korrigieren ist, von dem das Kind als Erwachsener überzeugt ist und daran glaubt. Sie erweist sich sozusagen als Fluch, da dies Wertesystem in chronisch, reflektorisch und automatisch abläuft, die Herrschaft der Mechanismen und Automatismus, die sich auf der Gefühlsebene abspielen, einer Gefühlsebene, die sich unterhalb und außerhalb seines Verstandes und der rationalen Kontrolle abspielt.
Dieser Patient kommt schon über 10 Jahre zu mir, anfangs auf Kassenkosten 2 x wöchentlich, dann sporadisch, in den letzten Jahren regelmäßig 1 x wöchentlich, zuletzt 2 x auf eigene Kosten. Er schwankt ständig zwischen Verdrängung und Benennung hin und her. Er erfährt, dass allein schon durch die Benennung seiner Innenbefindlichkeiten und widersprüchlichen Tendenzen eine Entspannung eintritt, und das motiviert ihn weiter zu machen. Bei ihm dauerte die Therapie deswegen solange, weil die Prägung durch die Erziehung besonders stringent war. Wenn die Erziehung und die Prägung nicht so stringent sind oder etwa ein Fürsprecher für ihn vorhanden ist zum Beispiel durch den Vater oder durch den Prinz im Märchen, aber nur im Märchen, ist er selbst der Lage mit den Geboten und Verboten fertigzuwerden oder eine Therapie dauert nicht so lange. Man nennt diese Widerstandskraft Vigilanz. Viele Patienten brachen infolgedessen die Therapie ab, da sie nicht in ihr Weltbild passte, weil jeder Mensch recht haben will, entsprechend seinem über Generationen verinnerlichtem Weltbild. Es bedeutet ja auch einen Frevel in Anbetracht von Generationen von Ahnen, etwas anderes zu sagen, als dass ein Kind zu erzeugen unter bestimmten Bedingungen eine Schande ist.