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Wissenschaft, Mensch, Leib & Seele

 

30. März 10 , 18:04

Und am Ende bleibt die Scham.  Der Erlösungsmythos auf dem Hintergrund der Scham

 

Serie: Über die Psychotraumatisierung in der kindlichen Entwicklung (Teil 5/5)

 

Ein junger Mann war schon vor seiner Geburt von allen Frauen der Familie, der Mutter, den Großmüttern und den Tanten, hochgejubelt worden. Er trinkt nicht, raucht nicht, ist höflich und verhält sich anständig zu den Frauen  In diesen Bereichen hatten die Frauen mit Männern schlechte Erfahrungen gemacht. Er soff wie ein Loch, rauchte wie ein Schlot, legte aber größten Wert auf Höflichkeit und war schwul. Als er sich in einer Eifersuchtsszene in der Szenekneipe mit seinem Partner prügelte, sprachen die Anderen ehrfurchtvoll vom Kampf der Giganten. Vom Examen trat er wegen Angstzuständen zurück, und seine Mutter wurde wegen Hirndurchblutungsstörungen in der Klinik behandelt. Ein Jahr später machte er locker sein Examen. Als ich nach seiner Mutter fragte, erzählte er, sie habe sich vorsorglich in eine Klinik einweisen lassen und er habe sie gut versorgt gesehen. So eng waren Mutter und Sohn verbunden, dass sie aus Sorge vor einem erneuten Scheitern ihres Sohnes erkrankte und er ebenfalls aus Sorge um die Mutter erkrankte. Der Sohn war von den Frauen zum Erlöser auserkoren worden, hatte sich teilweise an diesen Auftrag gehalten, teilweise rebelliert und sabotiert.

 

Einen Erlösungsmythos im negativen Sinne stellt nach meinen Erfahrungen die Epilepsie dar. Über Generationen hinweg haben die Urgroßmutter, die Großmutter, die Mutter und die Tanten schon gesagt "Du bist derjenige, der...!", und lauter negative Eigenschaften werden an dem später Kranken festgemacht. Auch auf ihn haben Generationen gewartet. Diese Stigmatisierung erlöst die übrigen Familienmitglieder von eigenen Entwertungen und Schande. (Diesen Zusammenhang erfährt man jedoch nur bei intensiver Nachfrage nach der Familienvorgeschichte). In einer derartigen Situation des Kesseltreibens bleibt er hängen, zappelt im Netz und weiß nicht ein noch aus, dem epileptischen Krampfanfall, einer Mischung aus Ohnmacht, Wut und Angst. Es ist daran zu denken, wegen dieses heiligen Charakters wurde die Epilepsie früher auch "Morbus sacer", die heilige Krankheit, genannt. Heute fallen Epileptiker nur noch selten auf, da es nützliche Medikamente gibt.

 

Der tiefste Hintergrund aller bedrohlichen Gefühle ist die Scham. Ihr wird eine Überhöhung, ein Größenbild der Souveranität, Unversehrtheit, Unabhängigkeit, Göttlichkeit, Heiligkeit und absoluten Wahrheit entgegen gesetzt. Im Größenbild werden das frühkindliche Ausgeliefertsein und die Ohnmacht ins Gegenteil verkehrt und von ihnen erlöst. Je tiefer Scham und Schande sind, desto höher ist das Größenbild. Aber gerade wegen des Größenbildes schämt sich der Traumatisierte und der Kranke zuerst seiner Verhaltensweisen, seines Leidens und seiner Gebrechen, wo doch alle anderen viel vernünftiger sind und es ihnen so gut geht. Durch diese Diskrepanz verschärft sich sein Leiden. Dringt er tiefer in seine Wahrnehmungen und seine Prägungen ein, aber nur wenn er Alternativen sehen kann, schämt er sich, dass er in seiner Erziehung all diesen Quatsch geglaubt und übernommen hat. Das ist im Angesicht des Souveranitätsbildes die tiefste und größte Peinlichkeit. Dann schämt er sich über seine Abhängigkeit und setzt ein Unabhängigkeitsstreben dagegen. Er schämt sich für die naive Spaltung der Welt in gut und böse, richtig oder falsch, den Verlust der Zusammenhangssicht und der Relationen, gegen die er eine einzige, ewige, unverrückbare Wahrheit setzt, eine Allwissenheit, für die er wiederum die Scham abwehren muß. Zuguterletzt schämt er sich noch für seine Eltern und für ihre Verhaltensweisen, die er verteidigt, da er mit ihnen identifiziert ist, wofür er sich wiederum infolge des Selbstverlustes und seiner Selbstbestimmung schämen muß. Einer der wichtigsten Abehrformen der Scham ist die Schuldzuweisung. In einem üblen Geschehen, wo viele beteiligt sind, die sich schämen müssten, wird die Schuld an Einem oder einer Gruppe festgemacht, und die Anderen sind erlöst. Die Schuld ist wohl die wichtigste Form der Erlösung von der Scham. Deswegen wird in sämtlichem unglücklichen Geschehen als erstes automatisch der Schuldige gesucht. Unser ganzes Rechtssystem basiert auf der Schuld.

 

Scham und Schuld am Beispiel des sexuellen Missbrauchs

 

Gegenwärtig sind alle Medien voll von Berichten über sexuellen Missbrauch an Jesuitenschulen, Reform- und Eliteschulen, weniger wird von Heimen berichtet, noch weniger von Familien, wenn, dann eher durch die (Stief)Väter. Noch mehr tabuisiert und vertuscht sind der sexuelle Missbrauch und die Misshandlungen durch die Mütter, da sie sich in noch wesentlich intimeren, geschlossenen Systemen abspielen und eine geringere Distanz und somit Identifizierung herrscht. Die Mauer des Schweigens, Vertuschens und Vergessens wird ins Gegenteil, eine Skandalisierung, gedreht, wobei vor 10 Jahren noch nicht der Missbrauch, sondern eher die Veröffentlichung als der eigentliche Skandal angesehen wurden. Ermutigt durch die ersten Berichte von unerschrockenen Missbrauchten trauen sich immer mehr an das Licht der Öffentlichkeit und rufen die Staatsanwälte auf den Plan. Dinge, die lange von Scham und Schuld begleitet waren, werden "schamlos" öffentlich preis gegeben, für die Medien sicherlich ein gefundenes Fressen im Angesicht der Heiligkeit der Kirche und ihres Unfehlbarkeitsanspruchs. Schliesslich fühlen sich auch viele Medienvertreter zumindest in ihrer Kindheit missbraucht, wenn auch oft nicht sexuell, und haben sich der Veröffentlichung und Bloßstellung verschrieben. Manche Kirchenvertreter sehen die heilige und unantastbare Kirche von den Medien durch den Schmutz gezogen.

 

Scham, Schande und Schuld aller Seiten sind die Hintergründe des Vertuschens. Die Kirche und die Reformschulen schämen sich, dass derartige niedrige Dinge geschehen, wo sie sich hehren Zielen wie dem Zölibat oder eine bessere Erziehung auf die Fahnen geschrieben haben, und dann noch schlimmeres geschieht als das, gegen das sie angetreten sind. Die Eltern schämen sich, dass sie selten ihren Kindern glauben, diese sie noch nicht mal einweihen, weil sie wissen, Priester und Lehrer sind unantastbare Personen und denen wird mehr geglaubt als ihnen. Die Zöglinge schämen sich und fühlen sich schuldig, dass sie das für sie Unvorstellbare mitgemacht und so lange geschwiegen haben. Manchmal verleugnen sie den Missbrauch soweit, dass sie sich lange nicht erinnern können oder die Erinnerung erst in Triggersituationen wieder auftaucht. Sich zumindest ein wenig als Mittäter zu fühlen, erlöst sie von ihrer Ohnmacht und dem Ausgeliefertsein. Aber als Täter fühlen sie sich schuldig. Oft genug geben die Missbraucher ihnen auch noch die Schuld, die Kinder hätten sie verführt.

 

Das ganze Geschehen spielt sich auf dem Hintergrund von frühkindlicher Ohnmacht und Ausgeliefertsein ab. Im Angesicht von Bedrohungen gilt die Persönlichkeit des Kindes oft wenig, und die Eltern haben immer recht, womit sich die Kinder identifizieren und ihren Eltern aufgrund deren Definitionshoheit und mangelnder eigener Standpunkte und Sichtweisen recht geben müssen. Durch die Identifizierung sind sie wehrlos ausgeliefert und müssen alles mit sich geschehen lassen, wenn sie nicht starke Helfer finden, die ja die Kirche und die Reformschulen darstellen sollten. Sollten sie sich gegen die Diktate der Eltern wehren, gelten sie als ungehorsam, trotzig, widerspenstig und verlieren neben ihrem Wert auch ihre Rechte. Wer wertlos ist, ist auch rechtlos. Wer einen überhöhten Wert besitzt, hat auch vermehrte Rechte und kann alles machen.

 

Hehre Ziele, Größe, eine rigide Sexualmoral, Unfehlbarkeit und Heiligkeit sind grandiose Reaktionsformen auf die frühkindliche Ohnmacht und sind Teil der Erlösungsmythen. Unter dieser Flagge segeln Scheinheiligkeit und Doppelmoral, da diese Erfahrungen nicht verschwunden sind und auf das spätere Leben übertragen werden. Die Missbrauchenden wandeln ihre frühere Ohnmacht in Macht über andere um und zwar genau an der Stelle, wo sie selbst traumatisiert sind, an den Kindern. Als Folge ihrer Identifikation mit den Aggressoren werden sie selber zu Aggressoren und aufgrund ihrer früheren Traumatisierungen können sie nicht anders. Pädophile und Päderasten sind kaum therapierbar, so sehr sind sie mit dem System innerlich verbunden. In den familienähnliche Strukturen der Schulen, die sicherlich bei kontrollierter Handhabung ein großartiges Gegengewicht zur Kindheit darstellen können und nach vielen Berichten auch dargestellt haben, deswegen die Reformpädagogik, finden Pädophile einen idealen Nährboden für ihre Neigungen und fühlen sich dorthin hingezogen. Sie suchen sich vorzugsweise verunsicherte, gedemütigte Kinder aus, erschleichen sich deren Vertrauen, oft mit Zuckerbrot und Peitsche, indem sie beispielsweise vorgeben, den sündigen Körper zu reinigen. Dadurch schädigen sie noch mehr das zuvor schon gestörte Urvertrauen. Die Folgen können lebenslang sein. Wegen der Veröffentlichung von Scham und Schuld sind alle Seiten an der Vertuschung beteiligt und müssen mit allen Mitteln daran festhalten. Nämlich, solange vertuscht wird, können alle Beteiligten der Illusion nachhängen, dass nichts geschehen ist.

 

Zur Vertuschung und Skandalisierung tragen zusätzlich noch bei, dass in der Ideologie unserer Kultur und Religion als Teil der Kultur von der reinen, heilen und heiligen Familie und somit auch in den Ersatzfamilien ausgegangen wird. Andere Dinge sind unvorstellbar. Dass Priester oder gefeierte Reformpädagogen derartig niedrige Dinge tun können, ist unvorstellbar. Das können die Opfer selber nicht glauben, obwohl sie es anders erfahren haben, noch weniger das weitere Umfeld. Ihnen wird nicht geglaubt, und sie sind zur Sprachlosigkeit verdammt. Eine weitere kulturelle Illusion ist, dass Erwachsene wissen, was sie tun, während Kinder das nicht wissen, so, als ob der Mensch beim Eintritt ins Erwachsenenalter sein eigener Souverän ist, als ob Eltern bei der Geburt eines Kindes, ein Priester oder ein Vorzeigepädagoge nicht mehr seinen Prägungen ausgeliefert ist. Psychologie und Tiefenpsychologie haben ganz andere Erfahrungen. Deswegen sind sie auch so unbeliebt, wie zu Zeiten Freuds, als ein Schrei der Empörung durch Europa ging, als er die Herrschaft des Unbewussten propagierte. Auch die Medizin muß sich oft fragen, warum erwachsene Menschen eher für ihre Krankheit als für ihre Gesundheit sorgen.

 

Unbekannte Hintergründe

 

Wie in den vorausgegangenen Artikeln beschrieben, liegen die Wurzeln der kindlichen Psychotraumatisierungen oft in frühen Erfahrungen, für die keine bewusste Erinnerung mehr besteht, und in der Überlieferung der Vorgenerationen, wobei Hintergründe und Zusammenhänge nicht benannt und wahrgenommen werden. Sie sind selbstverständlich, verstehen sich also von selbst. Eine schöne alttestamentarische Allegorie der traumatisierten Familie liefert die biblische Schöpfungsgeschichte, wo die Hintergründe der Verbote Gottes im biblischen und vergleichsweise kindlichen Paradies nicht benannt, im Dunklen sind, aber die Todsünde und der Teufel an Alltäglichkeiten des Lebens, hier das Essen eines Apfels vom Baume der Erkenntnis als Symbol der Selbstbestimmung des Kindes und der eigenen Erkenntnisse, festgemacht werden. Die Überlieferung über Generationen hinweg wird in der Erbsünde dargestellt. Aus dem irdischen Jammertal wird im christlichen Glauben ein Erlöser, Jesus Christus, gesucht und gefunden, auf den Generationen warteten, der sich für die Menschheit aufopferte und als Gott verehrt wird.

 

Da die Gründe nicht bekannt sind und nicht festgemacht werden können, kann die Bedrohung überall auftreten. Im Alltag stehen überall Fettnäpfchen herum, in die hinein getreten werden kann. Als Folge können generalisierte oder frei flottierende Ängste entstehen, die als allgemeine Angst auftreten oder die sich ihr Thema und Objekt suchen. Das Thema können symbolische Situationen, bei der Claustrophobie in Fahrstühlen, im Kino, etwa für die Enge des eigenen Lebens in der Angst in engen Räumen, als Spinnen- oder Schlangenangst von der Mutter überwältigt und eingesponnen zu werden, von ihrem Weltbild infiziert und angesteckt zu werden als Angst vor äußeren Infektionen bei naher Körperlichkeit oder als Angst vor elektrischen Schwingungen und chemischen Vergiftungen. Da diese Dinge tatsächlich auftreten, aber oft verdrängt und verleugnet werden, spaltet sich die Welt in diejenigen, die die tatsächlichen Gefahren nicht mehr wahrnehmen, verharmlosen und bagatellisieren und diejenigen, die Bedrohungen überhöhen, wo gar keine vorhanden sind, auf die sie aber trotzdem getreu ihren Überzeugungen mit Vergiftungszeichen reagieren können. Eine Mischform stellt die Straßenangst oder Agoraphobie unter vielen Menschen dar, wo die Blicke, Verurteilungen und bösen Gedanken gefürchtet werden. Siehe auch die Blendung des Ödipus, der seine Schande in den Augen der Bürger von Theben nicht mehr sehen wollte. Ich hatte mal einen Patienten, der das Gehen über den Uni-Campus als reinsten Spießrutenlaufen erlebte, verfolgt von den Blicken anderer. Andere würden ihm ansehen, was er für einer sei.

 

Wie im biblischen Beispiel in der Heiligen Familie und der Kreuzigung von Jesus Christus dargestellt, verlangen diese allgegenwärtigen Bedrohungen und die Erbsünde auch in der traumatisierten Alltagsfamilie nach einer Erlösung, einem Erlösungsmythos. Eine depressive Patientin erträumte sich wie Aschenputtel den Prinzen in einem Mann die Erlösung. Wenn sie den Richtigen gefunden hätte, der sie liebt, dann wäre sie erlöst. In Religionen ist es der Gott oder die Götter als Schutz vor den Bedrohungen, wobei das Böse sich in der durch die Traumatisierung erfolgenden Spaltung wieder findet in guten und bösen Göttern oder einem strafenden, rächenden und schützenden, erlösenden Gott. Das Böse pflanzt sich also trotz des Schutzes oder gerade wegen des Schutzes fort. Es gibt kein Entrinnen. Schließlich setzt jeder Schutz eine Bedrohung voraus, an die geglaubt wird. Je stärker die Bedrohungen sind, desto rigider und heiliger sind die Reaktionen und Rituale, so weit, dass diese wiederum eine Bedrohung darstellen können.

 

Contraphobie

 

Eine häufige, auch schon reifere Reaktion ist die Contraphobie, überängstlichen Müttern und Eltern das Gegenteil und die Ungefährlichkeit zu beweisen und gerade das zu tun, was besonders Angst macht. Dann kann sich jemand in Gefahren begeben, die er ansonsten nicht auf sich nehmen würde, etwa gefährliches Auto- und Motorradfahren, Extremsportarten oder auch kriminelle Handlungen. Das kann auch einem doppelten widersprüchlichen Auftrag entsprechen, dem Auftrag, gerades das zu tun, wovor die Eltern Angst haben, um sie vor ihren Ängsten zu erlösen. Der Contraphobische gelangt in eine schwierige innere widersprüchliche Situation, einerseits schwingt die verinnerlichte Angst mit, andererseits nimmt er die tatsächlichen Gefahren in seinem Bemühen nicht mehr wahr, verliert jegliche Vorsicht  und ist besonders gefährdet. Zu diesem Verhalten kann auch vieles andere gesundheitsschädliche Verhalten hinzu gerechnet werden wie extremes Saufen, Rauchen oder Fressen. Dies Verhalten hat natürlich noch andere gewichtige Hintergründe wie ein Größenbild der Stärke und Überlegenheit. Eine junge, sehr kleine Frau, die sich selbst als Alkoholikerin bezeichnete, war stolz, dass sie selbst große Männer unter den Tisch soff.

 

Negatives Selbstobjekt

 

Traumatisierte Eltern projizieren normalerweise ihre Selbstwertdefizite und –Entwertungen in ihr Kind. Das Kind, das Objekt, ist dann das eigene Selbst, ein Selbstobjekt oder ein erweitertes Selbst. Offen ist das Kind das Böse, verdeckt stehen die Eltern dahinter, wie die Geste des vorgezeigten Zeigefingers anschaulich zeigt, wo wie bei Vorwürfen verdeckt drei Finger auf den Vorwerfenden zurückzeigen. Dann sieht etwa eine Mutter alles ursprünglich Negative in ihrer Tochter oder der Vater im Sohn. Dies muss jedoch nicht geschlechtsspezifisch und –verwandt sein. Die Geschlechtsspezifität ist lediglich häufiger. Auch ein Vater kann negatives in seine Tochter oder eine Mutter in den Sohn hineinsehen. Die Aufnahme in das Selbstbild, Verinnerlichung der projizierten Anteile nennt man nach Melanie Klein „Projektive Identifizierung“, einem der teuflischsten Mechanismen, denn dadurch nimmt das Kind das Negative in sich auf, wird von den Eltern nach diesem Bild behandelt und verhält sich entsprechend diesem Bild, wird also sozusagen von innen regiert. Dann sind die Eltern die Guten und das Kind das Böse. Eine Patientin schilderte, sie war das häßliche Entlein, ihre Mutter der stolze Schwan. Insofern ist die Projektion eine Form des Erlösungsmythos. Die Kehrseite ist, dass die Eltern sich über ihr missratenes Kind schämen.

 

Das Kind leidet auch noch später als Erwachsener etwa unter Minderwertigkeitskomplexen, die es oft wiederum durch eigene Größe zu kompensieren sucht. Dann leben in dem Kind Entwertungs- und Größenvorstellungen nebeneinander, die oft durch Außeneinflüsse angesprochen werden. Wenn ein Außenstehender ein negatives Urteil fällt, ist der Entwertete am Boden zerstört. Negative Urteile fallen auf einen fruchtbaren Boden. Es besteht eine vermehrte Sensibilität gegenüber allem Negativem, etwa bei den pathologischen Formen der Mobbingopfern, die sich aufgrund ihrer Vorerfahrungen gemobbt fühlen, wobei die Gemobbten naturgemäß meist die Gründe bei den anderen sehen, selten in sich selbst. Die Schuld an den Anderen festzumachen, ist seine Erlösung, für die sie sicherlich Mitstreiter finden werden. Jedoch ist das Gebiet des Mobbings ein so heißes Pflaster, wo oft sehr schwer zu unterscheiden ist, wo die Ursachen liegen.

 

Da der Mensch nach seinen Wahrnehmungen und seinem Glauben handelt, wird der als Böser Hingestellte nach seinen Bildern leben und böse handeln. Er wird also ein Böser und vom Umfeld entsprechend wahrgenommen und behandelt. Seine Vorerfahrungen bestätigen sich, er ist böse, das Umfeld sieht ihn dementsprechend, und er ist in seinen Augen ebenfalls böse. Dann können die Anderen nur die Guten sein. Aber als Reaktion er kann auch versuchen, besonders lieb und gut zu sein, sein Selbstbild zu verstecken, muß aber immer fürchten, daß sein böser Kern in Erscheinung tritt und sein wahres Selbst erkannt wird. Derartig überhöht Gute sind etwa Priester und manche Pädagogen, während das Böse im verschwiegenen Raum ausgelebt wird. Ein Angstkranker etwa lebte nach der Devise „Mit dem Hut in der Hand durchs ganze Land“. Über dieses Hindurchlarvieren als Lebensweg zwischen gut und böse kann er einerseits stolz sein oder sich für den Verlust des geraden und aufrechten Ganges schämen, je nach Sichtweise.

 

Das Kind als Erlöser

 

Wie in der christlichen Religion in der Person von Jesus Christus wird in einer traumatisierten Familie, wo nur Leid, Konflikte und Versagen erlebt werden, nach einem Erlöser oder Erretter gesucht, an dem alle sich aufbauen können, der die Fahne aufrecht erhält, ihnen wieder Erfolg und Selbstbewußtsein vermittelt. Siehe obiges Beispiel. Er ist das Aushängeschild der Familie. Das ist oft der Erfolgreiche oder der Sonnenschein der Familie. Diese Rollenzuschreibung kann so stark verinnerlicht werden, daß die Kinder zumindest nach außen sonnig, glücklich und zufrieden auftreten und wirken. Schon viele Patienten klagten, egal, wie schlecht es ihnen gehe, alle würden glauben, es gehe ihnen gut. Sie könnten gar nicht anders, seien aber mit dieser Rolle völlig überlastet. Ein Patient, der über Depressionen und Schmerzen klagte, wirkte wie die Made im Speck, so wie er wohlbeleibt, süffisant lächelnd in seinem Stuhl saß. Andererseits war er völlig überzeugt, daß ihm alle sein Leid und seine Schwäche ansähen und sich daran aufbauten. Andere aufzubauen und ihnen Selbstbewusstsein zu verleihen, kann auch eine derartige Rolle sein. Ein Freund, ein ehemaliger Alkoholiker, lachte über viele Sätze meinerseits in einer Weise, als ob ich jederzeit einen guten Witz erzählt hätte, und ich fühlte mich richtig aufgebaut.

 

Oft werden Entwertung und Erfolgsanspruch an ein Kind gleichzeitig oder nacheinander herangetragen. Das Kind wird entwertet, vor allem, wenn es nicht in jedem Moment die Größenansprüche erfüllt, etwa mit guten Schulnoten. Ihm wird sein Selbstvertrauen genommen, wodurch es die Entwertungen bestätigt. Wenn es später trotzdem Erfolge vorzuweisen hat, heften sich die Eltern diese Erfolge als eigenen Erfolge an ihre Brust. Das kann dann dazu führen, daß das Kind den Misserfolg sucht, also sich selbst destruiert, da es den Eltern nicht den Erfolg gönnt. So sagte ein Patient „Erst schmeißen sie mir Knüppel zwischen die Beine, dann sonnen sie sich in meinem Erfolg“. Er kam sich vor, als ob die Eltern ihm den Erfolg weggenommen hätten.

 

Durch diese Erlöserfunktion und Rollenzuweisung fühlen sich viele Kinder und später als Erwachsene völlig überfordert, etwa den Sonnenschein darzustellen, wenn sie ganz deprimiert sind. Viele Zirkusclowns, die mit ihren Späßen erfreuen, sind untergründig ziemlich depressiv. Der Druck des Erfolges und die Angst vor dem Mißerfolg lähmt sie und provoziert den Mißerfolg.

 

Digitaler und analoger Dialog

 

Jeder Mensch muß mit anderen Menschen kommunizieren. Das ist sein Lebenselexier. Trägt er jedoch ein negatives Selbstbild aufgrund früherer Traumatisierungen in sich herum, muß er mit allen Mitteln verhindern, dass dies nach aussen im Angesicht anderer in Erscheinung tritt, also immer positiv, stark, perfekt und erfolgreich auftreten, einen guten Eindruck, positives Image, guten Ruf hervorrufen. Der gute Ruf erlöst ihn von dem Bösen. In der zwischenmenschlichen Beziehung, Kommunikation oder dem Dialog wird also immer sozusagen mit dem Zeigfinger auf etwas verwiesen. Ich nenne es den digitalen Dialog. Diesem Lebensziel kann das Leben in weiten Bereichen untergeordnet sein. Er kann nicht mehr frei auftreten und spontan kommunizieren, so wie es gerade in ihm ist und wie er sich fühlt, dem analogen Dialog. Jedoch ist das böse Selbstbild nicht verschwunden, sondern es wird weiterhin in den Anderen gefürchtet. Aufgrund der der Traumatisierung eigenen Aufhebung des zwischenmenschlichen Differenzierungsvermögen sieht er seine eigenen Bilder in den Anderen, sich selbst in den Anderen und liest seine Entwertungen aus anderen heraus, auch wenn es nicht so gemeint ist, ist insofern leicht verletzbar. Er ist blind, sieht nicht, dass andere das oft ganz anders sehen. Man könnte die soziale Phobie als die Grundlage vieler Störungen und Krankheiten sehen. Durch seine Bemühungen, Ängste und Aggressionen, schliesslich muss er aufgrund der vermeintlichen Entwertungen ständig wütend sein, ist er permanent überlastet. Das Kreuz des Lebens kann zum Kreuzschmerz und vielen anderen Krankheiten über die gesamte Krankheitspalette werden, gegen das er sich auch noch fortwährend wehren muss und vermehrte innere (Ver)Spannungen gerät. Manche drücken es als Angst aus, dass ihr wahres Selbst oder ihr Kern entdeckt wird. Andere fühlen sich wie ein Hochstapler, wenn sie anscheinend erfolgreich durchs Leben gehen.

 

Naturwissenschaftliche Medizin als Erlösungsmythos 

 

Das Gesundheitswesen und die Medizin suchen in diesen verwirrenden psychosozialen Verhältnissen klare, eindeutige und unanfechtbare Aussagen im naturwissenschaftlichen Weltbild, das von diesen über Generationen überlieferten inneren Realitäten erlöst. Das ist größtenteils der aktuelle Stand der Schulmedizin. Insofern kann man die naturwissenschaftliche Medizin ebenfalls als Erlösungsmythos ansehen, der allerdings an der inneren Realität des menschlichen Geistes vorbei geht und den Menschen auf die körperlichen und biologischen Gegebenheiten wie die körperlichen Gene, die Neurone, das Netzwerk mit den Verknüpfungen und biochemischen Überträgersubstanzen reduziert. Eigentlich sollte sie sich dessen schämen, aber davor schützt und erlöst sie die Macht und der Einfluss der renommierten Wissenschaft. Von subjektiver Sichtweise, Einbildung, Aberglaube, Schuld, Sünde und Peinlichkeit wird der Traumatisierte und Kranke erlöst. Diese naturwissenschaftliche biologische Sichtweise ist ganz im Sinne einer wachsenden Industrialisierung im Gesundheitswesen. Medizintechnik und Pharmaindustrie können dadurch ihre Produkte verkaufen, ihre Gewinne steigern und somit als fast einziger Wirtschaftszweig an der Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Zuschreibungen des persönlichen Versagens profitieren. Somit ist diese Industrie von den Gefahren des Niedergangs erlöst.

 

In dieser Serie über die (Psycho)Traumatisierung in der Kindheit konnten nur einige Aspekte angesprochen werden. Ob es sich überhaupt um eine Traumatisierung handelt und nicht um normale menschliche Konflikte, ist Ansichtssache. Manche beklagen sich über die Inflation und Aufweichung des Begriffs der Traumatisierung und machen ihn lieber an klaren, für jeden nachvollziehbaren äusseren Ereignissen fest, wo sie sich nicht schuldig fühlen und für ihre Schwäche schämen müssen. Aber selbst Soldaten und Opfer in Kriegen wie in Afghanistan schämen sich ihrer Schwäche, wenn sie unter ihren Erfahrungen dauerhaft leiden und verstummen oft. Um wieviel mehr gilt das für frühkindliche Opfer, die dann noch dazu nach ihren vielfach unbewussten Erfahrungen und Prägungen zu Tätern werden. Wie in der Überschrift angekündigt, handelt es sich um eine unendliche Geschichte mit vielen Aspekten, wobei mir selbst bei jedem Patienten und jedem Konflikt neue und andere Perspektiven einfallen, unter denen eine traumatisierende Entwicklung und deren Folgen zu betrachten ist. Jedem Leser, der sich interessiert mit diesem Thema beschäftigt, werden eigene Erfahrungen und andere Perspektiven einfallen.

 

Illustration: Detlev Eilhardt 

 

von Bernd Holstiege