Ein Wahnwitz – Versuch einer ketzerischen Deutung der christlichen Schöpfungsgeschichte, der Kreuzigung und der Erlösung – die Tragik des Kindes als Erlöser

Ein Flurkreuz in den Bergen oder Jesus am Kreuz. Quelle: Pixabay

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique).

Ein Patient erzählte mir grinsend, dass Jesus Christus am Kreuz aus
lauter Wut, Empörung und Rache gegen die Obrigkeit, die ihn ans
Kreuz nagelte und demütigte, wieder von den Toten auferstand und
diese weiterhin zur Vergeltung mit ihm zu rechnen hat. Grinsend, wie
er selbst sagte, das er dadurch der christlichen Kirche und deren
religiösem Glauben und Überzeugung eins auswischte, die für sich
in Anspruch nimmt, die alleinige, einzige und richtige Wahrheit zu
vertreten.

Anlässlich einer Beerdigung im Verwandschaftskreis hatte ich zugehört, dass der
Pfarrer von Jesus Christus predigte “ ich bin der Weg und die
Wahrheit“. Anschließend sagte ich vor der Tür zu den Umstehenden,
„wenn einer von sich selbst behauptet, er sei der Weg und die
Wahrheit, dann wird er entweder als Gott verehrt oder gekreuzigt. Ich
bin für die Kreuzigung.“ Mir war nämlich bewußt, wie viel Leid
die Verkündung der einzigen Wahrheit in Streitigkeiten, Glaubens-
und Kreuzkriegen und in Verfolgungen über die Menschheit brachte.
Als Gott wird er verehrt, da er den einzigen und richtigen Weg
aufzeigt, nach dem das arme Menschenkind, gedemütigt, verachtet und
mit Schuld beladen, so sehr lechzt, und gekreuzigt wird er wegen des
unendlichen Leides, das er herbei führt. Da habe ich aus religiöser
Sicht ketzerisch ein Tabu durchbrochen.

Das Wort Wahnwitz setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, der Wahn,
etwas anderes zu glauben als die Allgemeinheit, und das Wort Witz,
dass über den Wahn wie über einen Witz gelächelt und gelacht wird.
Man kann in einem traumatischen Geschehen über sich selbst und über
andere lachen. Über sich selbst ist ein Versuch, Abstand zu einem
selbst zu gewinnen, um nicht mehr dermaßen zu leiden und die eigene
Selbstachtung zu erhalten. Bei der Ironie und dem Sarkasmus ist man
in den kränkenden Inhalten immer noch involviert, glaubt noch an
diese Inhalte und ist sozusagen auf Abstandsuche. Inwieweit dies ein
intersubjektives oder Interpersonelles Geschehen ist, zeigt die
Kränkung des anderen an. Nämlich es handelt sich immer um
herabsetzende und entwertende traumatisierende Inhalte. Viele
Menschen lachen und grinsen bei an sich für sie üblen und
herabsetzenden Inhalten. Beim humorvollen Lachen ist diese
Abstandssuche gelungen. Die Sache oder die Person, über die gelacht
wird, ist nicht mehr traumatisierend. Da habe ich Abstand. Insofern
ist der Humor beiderseits eine gelungene, befreiende Sache.

 

Soviele Menschen es gibt, so viele Meinungen und subjektive Wirklichkeiten
aus der jeweiligen Perspektive gibt es. Allerdings gibt es in
Religionsgemeinschaften, Bevölkerungsgruppen und in Familien etwas,
wo diese Gruppe an bestimmte intersubjektive Inhalte und Wahrheiten
glaubt, an einer Gemeinsamkeit des Glaubens und der Überzeugungen.
Ein Wahn ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mitglied dieser
Gemeinschaft etwas anderes glaubt als diese Allgemeinheit. Und oft
genug glaubt diese Gruppe an die objektive und absolute Wahrheit.
Wenn die Mehrheit das sagt und daran glaubt, muss es ja stimmen. So
bestärken sich Meinungen als absolute Wahrheiten gegenseitig.

Die Wut verleiht Flügel. Dass es dadurch sogar wider die Natur und den
Naturgesetzen möglich ist, wieder von den Toten aufzuerstehen. Dies
halte ich natürlich umgekehrt für einen Mythos, denn ich glaube an
die Naturgesetze, ein Toter ist tot und nicht wieder aufweckbar. Aber
dies symbolisiert in meinen Augen wiederum traumatische Tatsachen,
die ich zu deuten oder als Ausdruck eines traumatischen Geschehens zu
übersetzen trachte.

Ich halte Mythen und Märchen, auch religiöse Mythen, an
die vielfach seit Jahrhunderten und Jahrtausenden traditionell
geglaubt wird, für Parabeln und Gleichnisse eines traumatischen
Geschehens. Wie überhaupt bei Traumata werden sie infolge der Wucht
und Schwere dieser Ereignisse, die man nicht verarbeiten kann, aber
die sich in den Neuronen im Gehirn und Verzweigungen und
Verästelungen im Netzwerk des Gehirns festsetzen, verdrängt und
verleugnet, sozusagen als Selbstverständlichkeiten im Dunkeln über
Generationen hinweg gehalten, und hat gerade dadurch gravierende
Folgen. Diese Traumata werden in Symbolen, Fabeln, Märchen und
Mythen wach gehalten und sich in mythischer Form daran erinnert mit
dem Ziel, sie einerseits festzuhalten und andererseits ihnen ihre
Bedrohlichkeit zu nehmen. Ich möchte zeigen, wie der Wahn, Traum und
sogar Krankheitssymptome ebenfalls dieses Ziel verfolgen.

Wie die Untaten der Vorfahren sozusagen in einem Schlossgespenst, das
herumgeistert, wieder auftauchen, taucht das traumatisierte Geschehen
überall wieder auf. Zum einen im Wahn, der, wenn man sich
Mühe gibt und zu dem Unbewussten des Patienten Zugang oder
Verständnis hat, ohne weiteres auf ein traumatisches Geschehen
hinweist. Dazu Beispiele: Ich hatte einmal einen Patienten, der im
Wahn zuhause das Dach abgedeckt hatte und in die Psychiatrie
eingewiesen wurde. Als ich ihn fragte, „warum er das gemacht
habe?“, sagte er „um den Mief von der Generationen
herauszulassen!“ Das weist auf die transgenerationelle
traumatische Perspektive hin. Ein anderer Patient war nackt auf einem
Autobahnparkplatz aufgelesen, dann in die Psychiatrie eingewiesen
worden. Er hatte sich sozusagen im Urzustand als Nackter präsentiert,
um so noch einmal neu anzufangen und Hilfe zu erlangen. Wiederum ein
anderer Patient sah über dem Boden überall Ratten und Mäuse
herumlaufen und fühlte sich von diesen bedroht. Für ihn waren die
Menschen Ratten, von denen er sich bedroht fühlte. Für sie war die
Symbolik sozusagen real, dass er sie buchstäblich sah und sich
dementsprechend verhielt. Ein anderer fühlte sich auf dem Uni Campus
von den Blicken des Umfeldes durchbohrt und durchschaut. Er führte
sozusagen einen Tanz vor den Blicken anderer auf. Das ist im
allgemeinen auch der Hintergrund von Sozialangst, Agoraphobie, die
Blicke der anderen, deren Vorwürfe, Verachtung und Entwertungen, und
der Klaustrophobie, dass es sozusagen in seinem inneren Weltbild
durch Verachtung und Entwertung zu eng wird, und sie dadurch vom
sozialen Tod bedroht sind.

Der Traum, in dem gegenwärtige Erlebnisse, das sind häufig
Tagesreste, auf dem Boden von früheren oft traumatisierenden
Erlebnissen symbolhaft verarbeitet werden, ist ein weiteres Beispiel.
Im Albtraum tauchen dann gegenwärtige und frühere Erfahrungen und
Erlebnisse wieder in Bildern als Bedrohung und Angst auf.

Auch beim Phantomschmerz, einem Gliederschmerz an einem chirurgisch
entfernten und nicht vorhandenen Glied, der nicht durch körperliche
Ursachen etwa aktuelle Verletzungen zu erklären ist, weist auf
frühere traumatische Ursachen hin, in denen das Glied und dessen
Verlust symbolhaft besetzt ist und dadurch schmerzt. Vielleicht ist
dies eine Strafe und Wiedergutmachung, die Strafe beinhaltet die
Wiedergutmachung für vergangenes Verhalten. Überhaupt halte ich
sämtliche nicht organisch erklärbare Schmerzzustände für ein
„Schlossgespenst“, z.B. bei der Fibromyalgie, für ein derartiges
symbolhaftes Geschehen.

Bei der Epilepsie, dem Morbus sacer, der Heiligen Krankheit,
wälzt, schüttelt und krampft sich der Kranke in einem ohnmächtigen
Wut- und Verzweiflungsanfall auf dem Boden herum. Die Bezeichnung
Heilige Krankheit weist auf die Tatsache hin, dass er als einziger
und Stigmatisierter in der Familie zum Sündenbock erklärt wurde für
ein Geschehen, an dem mehrere beteiligt waren, für das sich alle
Beteiligten eigentlich schämen müßten. Es ist ein neueres Beispiel
für die Schuld als Abweisung der Scham, in dem ein einzelner oder
einer Gruppe für gemeinsame Untaten aller Beteiligten verantwortlich
gemacht wird.

 

 

Schon in der christlichen Schöpfungsgeschichte, der Genesis, die
ich für ein Ursymbol und den Urmythos des traumatischen menschlichen
Werdegangs halte, waren die Motive von Gott im Dunkeln, warum er all
diese Gebote und Verbote seinen Nachfahren auferlegte. Die Motive
waren nicht wahrgenommen und verleugnet, sozusagen im Dunkeln, aber
hatten ursprünglich trotzdem den Zweck, nämlich die Wiederholung
und Verhinderung weiterer schrecklicher Ereignisse auf dem
Hintergrund früherer Ereignisse zu vermeiden. Die Eltern erzählen
ja nicht normalerweise, warum sie das tun. Bei einem Zuwiderhandeln,
als Ungehorsam deklariert, führte dies zur Erbsünde, die
sich von Generation zu Generation weiter übertrug, entsprechend der
transgenerationellen Überlieferung von früheren
Erlebnissen. Die Kinder waren und sind also einbezogen in Dinge, für
die sie ursprünglich gar nichts konnten und an denen sich trotzdem
zugleich schuldig und unschuldig waren und sind, schuldig, weil sie
daran glauben und davon überzeugt sind, und entsprechend ihrer
Überzeugung aktiv daran arbeiteten, diese zu verhindern. Die
Spaltung zwischen Schuld und Unschuld führte zu einem tief sitzenden
Zwiespalt. Der Anteil der Schuld erzeugte reuige Sünder, indem sie
daran glauben, höchstens Widerstand und Trotz zur Erhaltung der
Selbstbestimmung.

In der christlichen, biblischen Schöpfungsgeschichte ist es natürlich
eine Frau, Eva, die Urmutter, die von dem Teufel verführt, den Apfel
vom Baum der Erkenntnis pflückt, was Gottgleichheit bedeutet, ein
Symbol für die Sexualität. Insofern ist es den Kindern verboten,
eigene Erkenntnisse zu haben. Das bedeutet, wie die Eltern zu sein
und das Wissen zu haben. Die sexuelle Lust und Begierde, überhaupt
die sinnliche Körperlichkeit, sind also das am häufigsten und
intensivsten verbotene. Das zeigt sich meines Erachtens in jedem
fundamentalistischen Glauben. Der Fundamentalismus hat nach
traumatischen Erfahrungen in Mythen und Märchen seine
Hochkonjunktur. So erkläre ich mir auch den Sinn von
mittelalterlichen Hexenverbrennungen, die Hexe als Symbol für die
Mutter, die den Geist und das Gefühl ihres Kindes verhext hat.

Beispielsweise ist im mittleren afrikanischen Gürtel seit Jahrhunderten die
sexuelle Beschneidung bzw. Verstümmelung von kleinen Mädchen
Brauchtum. Dort werden die inneren und äußeren Labien
herausgeschnitten und die Scheide zugenäht, bis die Frau nur noch
pinkeln kann. Das ist für diese sehr traumatisch und als Folge
angstbesetzt. Zur Vermeidung dieser Ängste dienen Richtlinien, Moral
und Anstand werden aufrecht erhalten, um die Töchter heiratsfähig
zu machen. Diese sexuelle Beschneidung wird von Frauen und Müttern
weitergegeben, ist in den Neuronen und dem Netzwerk des Gehirns tief
verankert, während die Männer überaus vorsichtig und mit
Einfühlungsvermögen den Geschlechtsakt zur Kindererzeugung
durchführen müssen. Wegen dieser tiefen neuronalen Verankerung sind
Generationen zur Befreiung notwendig, in der sich die nächsten
Generationen immer wieder die Schäden und Ängste vor Augen führen.

In deutschen Märchen wie Aschenputtel und Dornröschen wird der
Erretter durch einen Prinzen, als Vatersymbol und zugleich als
Sohnessymbol, symbolisiert, der wie bei Dornröschen aus einem 100
jährigen Schlaf erweckt. Der hundertjährige Schlaf ist so etwas wie
der Tod, ein Symbol des Todes. In meiner heutigen Übersetzung ist
der Prinz der Vater und der Sohn zugleich, der durch sein Vorbild,
indem er die Normen, Gebote und Verbote nicht mitmacht und anerkennt,
aus der Umklammerung durch die Normen der Familie und der Mutter
heraus führt, ein Gegengewicht bildet, durch das das Kind vermehrt
Selbstbewusstsein, Bewusstsein des eigenen Selbst, entwickeln kann.
In den meisten Märchen ist die Schwiegermutter die Böse, die dem
Kind das schreckliche angetan hat, eine Verschiebung von der Mutter,
um die gute Mutter zu erhalten, die so etwas schreckliches dem Kind
nie antun würde und auch nicht darf.

Wut und Trotz: Wenn ein Gebot oder Verbot ausgesprochen wird, ohne
die Gründe und Hintergründe zu benennen und dem Kind durch
automatischen Gehorsam oder Kadavergehorsam einen eigenen Raum zum
Widerspruch zu gewähren, die das Kind nicht verstehen kann, verführt
das automatisch zu Widerstand, Wut und Trotz. Der Trotz dient also
der eigenen Selbstbehauptung und -bestimmung und zum Lebenserhalt.
Ohne diesen Widerstand ginge das Kind in seiner Selbstbestimmung
völlig unter, weil es ja für sein weiteres Gedeihen die Liebe,
Zärtlichkeit, Achtung und Zuwendung dringend braucht. Je früher dem
Kind die lebenserhaltende und verständnisvolle Zuwendung, etwa bei
einer depressiven oder einer ablehnenden Mutter, entzogen wird, desto
mehr wird bei ihm Trotz und Widerstand erzeugt, auf welchen Ebenen
nun immer. Die Ebenen sind der Traum, der Wahn und Symptome über die
gesamte Krankheitspalette, in der die Selbstbestimmung wieder
erwacht. Die frühkindlichen Traumatisierungen im Vorerinnerungsalter
etwa durch Entzug der Zuwendung, durch mangelndes Zärtlichkeit,
Vernachlässigung, durch Prügel und sexuellen Missbrauch, durch
Verachtung, Entwertung und Strafen laufen auf der körperlichen
Ebene. Dann neigt der Mensch zu körperlichen Reaktionen und
Krankheiten, das sind Autoaggressionen, nämlich die Wut, die sich
gegen das Umfeld richtet, richten sich durch die Verinnerlichung
gegen sich selbst.

Die frühen Erfahrungen legen die Basis für späteres Erleben. Es wird
dann überall eine Ablehnung hinein interpretieren und
dementsprechend wütend und trotzig reagieren, und kann kein Lob,
Anerkennung oder Wertschätzung annehmen. Dadurch findet ein
Kreislauf der Ablehnung und Entwertung statt.

Der Trotz ist dadurch gekennzeichnet, dass an die Inhalte und an das
Vergehen geglaubt wird, die Mutter und Familie hat sozusagen
Definitionshoheit, und trotzdem auf der unteren Ebene Widerstand
besteht, es sozusagen zum Trotz verführt wird. Der Mensch lässt
sich nicht vollständig unterdrücken. Irgendwo kommen das
Selbstbestimmungsrecht, die Wut und Rache zum Ausdruck, wenn auch im
Traum, im Wahn oder in Krankheitssymptomen. Da die Gebote und Verbote
vom Umfeld verinnerlicht werden, im Kind sind, es mit den Eltern
identifiziert ist, wird die Wut und der Trotz des Kindes gegen das
eigene Selbst, die eigene Person gerichtet, werden autoaggressiv und
selbstdestruktiv (verarbeitet). Deswegen sind der Trotz und die Wut
zu einer positiven Lebensgestaltung nicht erfolgreich.

Ein Beispiel hierfür ist die Anorexia nervosa, der
Pubertätsmagersucht. Die Magersucht imponiert dadurch, dass die
meist jungen Frauen trotzig gegenüber guten Ratschlägen des
Umfeldes, hauptsächlich der Mutter und total das Essen verweigern.
Sie treiben exzessiv Sport und nehmen Abführmittel, um abzunehmen
und nicht wie normale Frauen zu erscheinen. Sie werden an
psychiatrischen Kliniken untergebracht und werden künstlich
ernährt. U.U. sterben sie an ihrer Erkrankung – höchst
selbstdestruktiv. Dahinter steht ein verzerrtes Körperbild, in dem
sämtliche Gewichtszunahme sie wie eine schwangere Frau, wie die
Mutter, aussehen lässt, und die sie gegen dieses Bild mit allen
Mitteln ankämpfen lässt. Sie selbst betrachten sich als völlig
normal, verleugnen also selbst ihr Krankheitsbild. Hintergrund ist,
dass sie als Kinder stark gedemütigt waren, und ihr Kampf gilt der
Autonomie.

Ich hatte einmal eine junge Frau in Behandlung, die mir glaubhaft
versicherte, 12 Jahre lang unter einer Magersucht gelitten zu haben
mit einem Durchschnittsgewicht von 28 kg und dem niedrigsten Gewicht
von 25 kg bei einer Größe von etwa 1,65. Sie erzählte von den
Demütigungen ihrer Kindheit. Als sie sich zur künstlichen Ernährung
in einer weit entfernten Spezialklinik befand, jammerte sie, sie
hätte sich so einsam gefühlt, wäre nicht einmal von den Eltern
besucht worden. Als ich sagte, „gab es nicht eine Schwester oder
einen Pfleger, zu dem sie Vertrauen haben konnten?“, teilte sie mir
trocken mit, „wie kann man auf einer Station Vertrauen haben, wo 12
Magersüchtige Eltern! und Personal reinzulegen versuchen!“ Als sie
mit 25 zu Hause, einer oberhessischen Kleinstadt, auszog, war die
Magersucht vorbei, und sie suchte mich etwas pummelig aus Sorge um
mögliche Nachfolgeschäden und ihrem Ehemann, einem
Spritzenanabolikabodybuilder (das Gegenstück zu ihrer früheren
Dünnheit), der täglich mit seiner Mutter 2 Stunden telefonierte,
auf.

Ein zweites Beispiel dafür ist die Bulimie, die Fress-Kotz-Sucht.
Die Kranken leiden unter Fressanfällen, dann stecken sie den Finger
in den Hals und kotzen alles wieder heraus, damit man ihnen nichts
ansieht und sie nicht zunehmen. Normalerweise bilden sie auf die
Dauer Elektrolytstörungen aus. Eine Kranke berichtete von einem
bulimischen Anfall, dann erzählte sie zufällig, dass die Mutter
angerufen hätte und auf ein Stöhnen ihrerseits hat die Patienten
den Hörer auf die Gabel geschmissen und anschließend einen
bulimischen Anfall gehabt. In dem Moment des Stöhnens tauchte bei
ihr die Gesamtheit der Vorwürfe der Mutter, sie hätte wegen ihr ein
so schweres Leben gehabt und ihr eigenes Leben aufgegeben. Des
weiteren merkte ich, wenn die Patienten von einem bulimischen Anfall
gesprochen hatte, daß wieder die Mutter angerufen hatte. Die
Patienten selbst hatte davon keinerlei Wahrnehmung, anfangs, bis sie
langsam das selbst merkte.

Adpöse und übergewichtige Frauen leiden normalerweise darunter, dass sie in
ihrer Einschätzung von den Männern nicht anerkannt und gemocht
werden. Deswegen essen sie unentwegt als Ersatz und bilden
Kummerspeck heraus. Wenn dann doch mal ein Mann Interesse an ihnen
zeigt, dann sagen sie, „der muss pervers sein und einen Perversen
wollen sie auch nicht haben“.

Bei allen diesen Beispielen von Eßstörungen wird deutlich, dass man
über den Wahn wie über einen Witz lachen kann, wenn man genügend
Abstand dazu hat und nicht darunter leidet. Ansonsten ist das
Geschehen ziemlich traurig.

Außerdem bildet das Kind für seine Ohnmacht und Entwürdigung, je früher
desto mehr, ein Größenbild heran, ein Bild von Unabhängigkeit,
Souveränität, Stärke und Unversehrtheit, das überhaupt nicht der
Realität entspricht. In diesem Bild wird es Gott gleich und alles,
was dem zuwiderläuft, ist des Teufels. Ein jeder kennt den Säugling,
der ohne Rücksicht auf die Umgebung einfach schreit und sein Recht
einfordert. Sein Recht sind Wärme und Geborgenheit, Gelassenheit und
keine Ängste und Spannungen, die sich auf ihn übertragen, eine
Wertschätzung, die er unbedingt zur Lebenserhaltung und zu seinem
Gedeihen braucht. Wenn nicht auf seine Elementarbedürfnisse
eingegangen wird, so bleibt trotzdem das Größenbild auf der unteren
Ebene halten, andererseits fühlte es sich auf der oberen Ebene
gegenüber diesem unbewussten Größenbild minderwertig, ist
verzweifelt und voller Wut und Trotz. Es findet eine unüberbrückbare
Spaltung in der eigenen kindlichen Person statt und diese bleibt auf
beiden Ebenen lebenslang unbewusst bestehen.

Dies Größenbild und der Trotz sind wiederum Gegenstand der Schuld und
müssen zum Ausgleich und zur Vergeltung bestraft werden. Die Strafe
ist die Rache und Vergeltung der Autorität und zugleich
Wiedergutmachung. Der Anteil der Unschuld, zu Unrecht beschuldigt zu
werden, erzeugte Wut und Vergeltung. Um aus diesem Dilemma der Schuld
herauszukommen, sind die Folge die Erlösungsmythen.

Wegen der Schwere und der Jahrhunderte alten Tradition von Schuld reicht
ein normaler Mensch nicht, es muss ein überirdisches Wesen, ein Gott
sein, der genügend Macht besitzt und allwissend ist. Ein frischer
und neuer Geist muss entstehen, um der Jahrhunderte alten Spirale von
Schuld und Sühne zu entkommen. Im christlichen Mythos war dadurch
der Heilige Geist geboren, eine dritte Instanz und Bindeglied
zwischen Vater und Sohn, natürlich göttlich, die Dreifaltigkeit
Gottes.

Wenn nun die Eltern beispielsweise unter Schande und Verachtung leiden, so
wünschen sie sich nichts sehnlicher, als dass ihr Kind sie aus
diesem Leiden hervorgeholt und befreit. Schließlich wollen alle
Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Es besteht also die Erwartung,
dass das Kind Widerstand leistet, ihren Geist korrigiert und nicht an
die Schande glaubt. Vordergründig muss es jedoch alles tun, um die
Schande nicht offenbar werden zu lassen, aber hintergründig jedoch
eben nicht. Die Ambivalenz der Eltern ist unvereinbar. Das Kind muss
einerseits brav sein und andererseits muss es Widerstand leisten.
Dann sind die Eltern stolz auf ihre Kinder. Da beides gleichzeitig
nicht geht, ist das Kind völlig überfordert und es entsteht dadurch
eine Spaltung zwischen vordergründig und hintergründig oder einer
oberen und unteren Schicht. Die vordergründige Schicht wird beim
Zuwiderhandeln bestraft und auf der hintergründigen Ebene wird das
Kind dafür gelobt und geliebt. Das Kind ist wie ein Erlöser und
Erretter.

Wenn die Kinder es besser haben als ihre Eltern, dann wird bei den Eltern
normalerweise Neid erzeugt, gerade unter traditionell traumatischen
Bedingungen. Das ist Sinn des Ahnenkultes, um die Ahnen milde zu
stimmen. Aufgrund des Neides erheben sie Gebote und Verbote, damit
das Kind es nicht besser als sie hat, die wiederum den Trotz und die
Wut des Kindes provozieren. Die Eltern wollen jedoch nicht der Neid
vor sich selbst wahrhaben, er ist ihn ja auch nicht bewusst und auf
der unteren automatischen und reflektorischen Ebene, quasi im
Netzwerk. Dann erklären Sie ihren Kindern, all diese Verbote und
Verbote seien nur zu ihrem Besten, ähnlich wie die
sexualverstümmelnden Mütter im afrikanischen Brauchtum. Die Moral
dient der Abwehr ihres Neides. Sie haben ihre Rollen vertauscht und
sind dann die Guten. Wegen ihres Neides leiden sie unter
Schuldgefühlen, die sich wiederum mit dem Neid auf das Kind
übertragen. Das Kind hat auch wegen seines Trotzes und der Wut
Schuldgefühle. Insofern sind Eltern und Kind in der Wut und den
daraus resultierenden Schuldgefühlen vereint.

Nun kommen wir wieder zurück zur anfänglichen Bemerkung des Patienten,
die er grinsend aussprach. Wenn diese Bemerkung akzeptiert und wert
geschätzt wird, ist dies ein frischer, neuer Geist in dieser
unendlichen Spirale von Wut, Trotz, Bestrafung, Schuld und
Widerstand, der alttestamentarischen Erbsünde, durch den sogar Tote
erweckt werden können, dadurch im Mythos die Auferstehung, als
Parabel verstanden.

Vor allem im Krankheitsgeschehen bei Depressionen, Schmerzzuständen u.a.
führt das Eingeständnis der inneren Wut zu einer Erlösung, zu
einer Entspannung und dadurch zur Gesundung. Das Unterdrücken der
eigenen Wut hat sehr starke Auswirkungen auf den eigenen Körper und
führt zur Symptomatik. Man kann sie auch als Autoaggression
auffassen, weil nämlich die Mutter und Familie durch den gemeinsamen
Glauben im eigenen Körper sich befinden, und somit die Aggressionen
gegen das eigene Selbst und den eigenen Körper und die Seele
richten. Man ist also sein eigener Gott, und ist nicht von einem
äußeren Gott-Heiler abhängig, der sowieso bei fortbestehender und
unterdrückter Wut völlig hilflos ist und diesen Zustand auf
körperliche Gegebenheiten, beispielsweise die Gene zurückführt.

Sie sehen, eine Kindheit unter traumatischen Bedingungen und Traditionen
ist eine äußerst komplizierte und komplexe Sache. Da haben
Religionen schon ihren Sinn. Ein Gott dient dem Schutz, dem Trost und
der Beruhigung in den Widersprüchlichkeiten des Lebens. Da kann man
schon verrückt werden, und manch einer wird es auch, etwa 1% der
Bevölkerung. Der Mensch muss in jedem Augenblick an irgendetwas
glauben, er lebt in einer Realität. Dabei ist es förderlich,
selbstreflektiv die Komplexität, die Ambivalenzen, die
Widersprüchlichkeiten, die mangelnde Gradlinigkeit, und das
vordergründige und hintergründige Geschehen zu betrachten, wozu
dieser Artikel beitragen soll.