Die Tränen beim Häuten der Zwiebel
Gedanken zur Vergangenheitsbewältigung anläßlich der Waffen-SS-Bekenntnisse von Günter Grass


Günter Grass selbst sagt, es habe „raus“ gemußt. Was mußte raus – Scham-, Schuldgefühle? Aber warum erst nach über 60 Jahren? Hat er gehofft, einem knapp 80 jährigen verzeiht man eher? Dieser stehe jenseits von gut und böse? Er, das Gewissen der Nation, der sich politisch überall an vorderster Front einmischte und seit der „Blechtrommel“ das Vergessen bekämpfte, bekannte, ein ehemaliger Waffen-SS- Angehöriger gewesen zu sein, wenn auch nur kurzfristig, sozusagen als Jugendsünde und anscheinend ohne Beteiligung an den Verbrechen. Nimmt er in seiner blumigen, ausschmückenden Fabulierkunst nicht genügend den Ernst der Lage wahr, die Millionen von Kriegsopfern, die Verbrechen an den Juden, Zigeunern, psychisch Kranken, Behinderten und zerstörten Städte, das unendlichen Leid, das die Nazis über Europa brachten, obwohl er sein Leben dieser Erinnerung widmete? Als ob so etwas per Prosa zu bemänteln sei. Sein Buch erscheint widersprüchlich, und er spaltet die Nation.

Die einen verurteilen ihn. Die Danziger überlegten, ihm die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen, haben dies aber nach seinem erklärenden Brief zurückgenommen. Für viele sind die Bekenntnisse ein gefundenes Fressen, sie sind empört, aufgebracht. Manche halten ihm seine Entrüstung vor, als Helmut Kohl in Bitburg an den Gräbern von gefallenen Waffen-SS- Angehörigen Kränze niederlegte. Seiner Generation, deren Uniform er trug. Und jetzt ist er selber so einer! In ihren Augen der Gipfel von Scheinheiligkeit und Doppelmoral! Die anderen halten die Angehörigkeit für eine läßliche Jugendsünde, die den Verdienst seiner Werke in keiner Weise in Frage stelle und erklären diese Tatsache mit dem damaligen Zeitgeist, zumal er sich nicht freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte, sondern eingezogen wurde. Sein neues Buch halten sie für eine prosaische Meisterleistung und sie halten ihm höchstens vor, er habe sich früher offenbaren müssen.

Hätte er sich jedoch früher offenbart, wären sicherlich seine Karriere und der Nobelpreis in Literatur in Frage gestellt worden. Hat er sich also in der Nachkriegszeit an den neuen Zeitgeist, zum Teil von den Siegermächten verordnet, angepaßt, wie viele während des SS-Staates, umgeben von Spitzeln, sich anpaßten, sogenannte Opportunisten, um ihr Überleben zu gewährleisten, er einWendehals Genannter, der seine Worte und Taten nach den jeweils Herrschenden richtet, jedoch ohne seine innere Überzeugung zu wechseln?

Auch noch später bis heute herrscht als Zeitgeist eine strengen Zensur, wo zwar nicht das körperliche Überleben, aber das narzißtische Überleben, die Selbstachtung und Achtung der Zeitgenossen gefährdet sind, so daß es geschehen könnte, wie Grass mit einigem Recht befürchtet, daß er zur Unperson erklärt würde. Ist er der Veröffentlichung zuvor gekommen, etwa wie Klaus Wowereit mit seinem Spruch „das ist auch gut so!“? Das vermuten manche. Grass hat in ein Wespennest gestochen, deswegen der Aufschrei der Nation und Sturm im Blätterwald. Der Aufschrei spricht eine deutliche Sprache. Oder ist es ein Sturm im Wasserglas? Dient alles nur dazu, die Auflage zu erhöhen? Auch das wird vielfach vermutet. Sicher wäre seine Zugehörigkeit nicht publik geworden, da laut Klaus Staeck keine Dokumente vorliegen. Oder wären vielleicht doch von einem eifrigen Biographen, dem er mit seinen Bekenntnissen zuvor kommen wollte, um seinen Nachruhm zu erhalten, Dokumente zu Tage gefördert worden? Es spricht nichts dafür und manche meinen, das Buch sei ein erinnerungspolitischer Geniestreich.

Seine Bekenntnisse resultieren meines Erachtens weniger aus diesen äußerlichen Gründen, sondern vermutlich aus seinen Schuld- und Schamgefühlen, seinem Gefühl der Mitverantwortung und Mitschuld, wie er selbst sagt. In diesem Geist werden die Untaten der Vorfahren zu Schuldgefühlen und Untaten der Nachkömmlinge. In diesem Gefühl sind viele junge Deutsche zur Sühne und Wiedergutmachung nach Israel gegangen, obwohl sie zum Zeitpunkt der Verbrechen noch nicht einmal geboren waren. Verwunderlich ist diese gemeinsame Sichtweise nicht, da im kindlichen Prägungsprozeß die Eltern ihre Lebenseinstellung ihren Kindern vermitteln und diese sie sich zu eigen machen. Das diesbezügliche Sprichwort lautet: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“.

Dazu möchte ich die Geschichte eines Bekannten schildern: Er vermutete, daß sein Vater in leitender Position an Naziverbrechen beteiligt war, obwohl dieser das nie eingestand. Daraufhin habe er seinen Vater jahrelang nicht angucken, nicht mit ihm sprechen können, sich andererseits intensiv mit dem Judentum beschäftigt. Erst als ihm klar wurde, daß dies Sache des Vaters sei und nicht seine eigene, habe er mit dem Vater wieder sprechen können.

Andererseits wird diese Einstellung des Unbeteiligtseins, nicht die fremde Sache sich zu eigen zu machen, von vielen als mangelndes Mitgefühl und -leid beklagt. Die Naziverbrechen wären auch kaum ohne diese Wegguckeinstellung mit der Folge des Nichteinmischens möglich gewesen. Deswegen dürfe nicht weggeguckt, vergessen, verdrängt und verleugnet werden, und Günter Grass ist ein unentwegter Mahner, der vielen auf den Schlips tritt, die endlich vergessen möchten. Dadurch machte er sich bei vielen als ihr personifiziertes schlechtes Gewissen unbeliebt. Sicher wird die Entrüstung auch aus anderen Quellen gespeist, etwa aus Neid über seine Karriere, seinen Erfolg, auch als gesellschaftliche Instanz und als moralisches Gewissen der Nation. Für diese ist jetzt sein Bekenntnis ein geeigneter Vorwand und der geeignete Zeitpunkt der Abrechnung. Er selbst hat auch noch seinen Kopf zur Verfügung gestellt. Also ein Märtyrer der Nation?

Mein Anliegen ist, dazu einige Aspekte unter dem Gesichtswinkel der (Psycho)Traumatisierung in die Diskussion zu werfen. In meinen Augen waren die Deutschen, und nicht nur diese, über Generationen durch den Zeitgeist aus dem 19. Jahrhundert traumatisiert, wie er etwa in den meistgelesenen pädagogischen Büchern von Schreber verkörpert wurde mit dem Tenor „der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen!“. Ich sage „verkörpert“, da der Zeitgeist körperlich mit Strafen, Schlägen bis zu sadistischen Ritualen vermittelt wurde. Absoluter und blinder Gehorsam waren und sind immer noch in einigen Elternhäusern und Institutionen gefragt. Dieser Zeitgeist ist eine Folge von lebensbedrohlichen Vorerfahrungen, u. a. aus Kriegen, Vertreibungen, Ausbeutungsverhältnissen. Hinzu kam für die Deutschen die Demütigung der Niederlage im 1. Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise. Die Widersprüchlichkeit der Knechtung kann in einer symbolischen Geste versinnbildlicht werden - der Nackenbeugung mit der Aufforderung „halt’ dich gerade!“ Die Folge sind Verkrümmungen der Wirbelsäule, der Verlust des aufrechten Ganges und einer Zwischenmenschlichkeit in Augenhöhe.

Ein Volk von Geknechteten, Gedemütigten und Erniedrigten über Generationen hinweg reagiert auf diese Psychotraumatisierung in typischer Weise nach den Gesetzen der Traumatisierung: Dazu einige maßgebliche Reaktionen:

1. Die Umwandlung von Schwäche, Unterlegenheit, Demütigung in ein Männlichkeits-, Überlegenheits-, Stärke- und Härtebild und der Haß auf alles Schwache, vermeintlich auch die Frauen. Dazu gehört eine Alles- und Besserwisserei.
2. Einer Suche nach Göttern, Idolen, deren Vorbildern gefolgt wird, um sich mit ihnen zu identifizieren und somit vor den Bedrohungen geschützt zu sein wie in dogmatischen und fundamentalistischen Religionen oder dem Naziregime und dessen Ideologien quasi als Ersatzreligion.
3. Die Wut und der Haß auf die Erzieher wandeln sich um in Autoaggression und Selbsthaß, die wiederum zum Selbstschutz nach außen projiziert werden müssen. Dann entlädt sich die Wut nach außen und führt zu einer Spaltung in Gut und Böse. Die Bösen sind die anderen, die Guten wir, also eine unanfechtbare Selbstgerechtigkeit.
4. In einem rigiden, engen System und einer rigiden Moral bleibt einzig die Freiheit die Doppelmoral oder Bigotterie “nach außen hui und innen pfui“. Das innere Pfui wird wiederum nach außen projiziert und in den anderen bekämpft. Dies führt ebenfalls zu einer Selbstgerechtigkeit und Pharisäertum.

Normalerweise sind diese Reaktionen automatisch, reflektorisch, gehören zum Wesen der Traumatisierung und können je nach der Intensität des Traumas gar nicht oder erst im Nachhinein reflektiert werden und dann noch eher von einem unbeteiligten Umfeld, das sich weniger vorzuwerfen hat. In diesem Zeitgeist ist jegliches Häuten der Zwiebel und Vorstoßen zum Inhalt und Kern von Tränen begleitet. Als Kern wählt Günter Grass die Metapher des Bernsteins, des harten Kerns der harten Wahrheit.

Adolf Hitler und etliche Naziführer waren in ihrer Kindheit stark gedemütigt und somit traumatisiert. Ihnen gelang es, sich als Idole und Führer anzubieten und Millionen Geknechteter waren leicht zu verführen, ihren Angeboten zu folgen. Die Nazisymbolik, der Herrenrasse anzugehören, den Außenfeind zu bekämpfen und an den Endsieg (über das Böse) zu glauben, schmeichelte ihrer verwundeten Seele und gab ihnen Hoffnung. Die narzißtische Vernichtung, die Entwertung und Demütigung im Kern ihres Selbst vieler Deutscher war so stark und abgrundtief, daß sie bereit waren, sie in die körperliche Vernichtung mißliebiger Personenkreise wie politisch Andersdenkender, der Homosexuellen, der psychisch Kranken, Behinderten, Zigeuner und vor allem der Juden umzuwandeln oder zumindest wegzuschauen und somit zum Unheil beizutragen. Die Juden boten sich - wie vielfach in ihrer Geschichte - infolge ihres Mythos des auserwählten Volkes, also in Konkurrenz zur Herrenrasse und als vermeintliche Mörder des Erlösers Jesus Christus an. Außerdem verfügten viele über Reichtum, den sich „das Volk“ einverleiben konnte. Dieser Mechanismus der Umwandlung in die Ermordung von Millionen Menschen und der Verlust jeglicher Menschlichkeit übersteigen das menschliche Fassungsvermögen und bleiben grauenvoll und unbegreifbar.

Ich versuche zu erklären, Einsicht in die Hintergründe und Zusammenhänge zu gewinnen, nicht zu entschuldigen oder sogar zu akzeptieren, aber deutlich zu machen, daß es so war und derzeit zum Teil in der Welt noch so ist. Denn die Traumatisierung der Völker mit allen ihren Folgen ist nicht verschwunden und blüht in Kriegen, Genozid und Terrorismus weiter auf. Die im Endsieg als endgültiger Erlösungsmythos angestrebte heile Welt ist noch nicht eingetreten und wird durch Krieg und Vernichtung mit Sicherheit nicht eintreten. In diesem tragischen Paradoxon leben Traumatisierte, das Beste zu wollen und das Schlimmste zu schaffen.

Günter Grass erging es in vielem nicht besser als seinen Zeitgenossen. Auch er wuchs in einem engen, kleinbürgerlichen traumatisierenden Milieu auf. Seine Rebellion und onanistischen Praktiken sprechen eine deutliche Sprache. Bei der Meldung zur Marine und dem Einzug zur Waffen-SS versuchte er diesem Milieu zu entkommen, suchte seine Freiheit und Selbstanerkennung und glaubte anscheinend entsprechend dem Zeitgeist der Machthaber und größter Bevölkerungsanteile bis zum Kriegsende an die Nazisymbolik einschließlich des Endsieges, auch für ihn Balsam seiner verwundeten Seele und seines vermutlich geschundenen Selbstbildes.

Nach dem Krieg öffneten sich langsam seine Augen. Nach langer Verblendung sah er die Geschehnisse und verurteilte sie zurecht, sah aber auch, daß viele Nazibonzen wieder in Amt und Würden waren, an Wiederaufbau und Wirtschaftswunder beteiligt waren und so taten, als ob nichts geschehen sei. Wie durch ein Wunder stieg er aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zum berühmten Schriftsteller auf und wurde zum Mahner und Gewissen der Nation. Die Verdrängung, das Vergessen, die Heuchelei, die Doppelmoral und Bigotterie prangerte er an, machte diese an Personen fest und schuf sich mutig viele Feinde. An ihm scheiden sich die Geister.

Er selbst sagt, allein die Mitgliedschaft in der Waffen-SS bereite ihm keine Scham- und Schuldgefühle, dort habe er sich nichts vorzuwerfen, vielmehr werfe er sich heute das Schweigen zu Vorkommnissen und das Unterlassen von kritischen Fragen vor. Hätte er nicht geschwiegen, wäre er potentiell in Lebensgefahr gewesen. Sollte man ihm das als Opportunismus vorwerfen? Hinzu kommt, daß die Indoktrination der Nazipropaganda und Hirnwäsche einschließlich der verführerischen Versprechungen wenig inneren Raum zu kritischen Fragen ließ. Auch Angst lähmt das Gehirn. Um diese Fragen stellen zu können, müssen alternative Erfahrungen und Möglichkeiten vorhanden sein, so daß überhaupt daran zu denken ist. In seinem Elternhaus hat er wohl kaum diese Erfahrungen gemacht haben können. Daß diese in einem anderen Milieu auch damals möglich waren, bezeugt die FAZ-Leserzuschrift eines fast gleichaltrigen Pfarrers, der nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, sich freiwillig zur Armee zu melden und Beispiele eines mutigen Widerstandes innerhalb der Katholikenschaft anführte. Er ist halt in einem anderen Elternhaus aufgewachsen. Ähnlich war es wohl in einem kommunistischen oder sozialdemokratischen Milieu.

Schamgefühle resultieren aus dem Größen- und Souveränitätsbild, erhaben über allen Einflüssen zu stehen, dennoch auf diesen verbrecherischen Zeitgeist hereingefallen, ihn übernommen und an ihn geglaubt zu haben, der Verblendung, die Grass an sich feststellt. Das Größenbild und die Verblendung sind aber eine Traumafolge und völlig irreal, da ein Kleinkind automatisch die Überzeugungen des Umfeldes übernimmt, die ihm auch handgreiflich beigebracht werden. Ähnlich ist es mit seinen Schuldgefühlen. Als Traumafolge besteht eine selektive Wahrnehmung, in der in einem Geschehen, an dem viele beteiligt sind, wie die Prägungen des Elternhauses, die Mitschüler, die Lehrer, die Nazipropaganda, die als solche nicht erkannt, sondern als Wahrheit übernommen wird, die Schuld an einem oder einer Gruppe festgemacht wird. Wie sehr diese Schuldzuweisung und Sündenbockstrategie in allen Bereichen noch heute verbreitet sind, diese Tatsache weist auf traumatisierte Anteile der heutigen Gesellschaft hin. Auch wenn Günter Grass ein berühmter Schriftsteller ist, ist er als Mensch trotzdem den Gesetzen der Traumatisierung ausgeliefert. Aus seiner Idolisierung als Hoffnungsträger mag mancher Vorwurf und die Enttäuschung stammen, daß er doch nur ein Mensch mit allen Fehlbarkeiten war und ist. Fällt in der Schwarz-Weiß-Malerei ein Schatten auf das Idol, wird es verteufelt. Es ist die Eigenschaft von Schuldzuweisung und Vorwürfen, eigenes am anderen fest zu machen. Dies zeigt symbolisch die sichtbare Geste des vorgestreckten Zeigefingers mit den unsichtbaren, verdeckten drei zurückweisenden Fingern.

Günter Grass schildert, er habe lange gebraucht, sich mit dieser Phase seines Lebens auseinanderzusetzen, da sie ihm fremd geworden sei. Diese innere Entfremdung, daß Fremdes in die eigene Person eintritt, schließlich hat er sich inzwischen ein ganz anderes Leben zu eigen gemacht, ist typisch für die Traumatisierung, in der Unverarbeitbares von außen, also Fremdes die eigene Person überwältigt. Verständlich ist, daß er über einen Fremden keine Auskunft zu geben braucht. Um wieviel mehr müssen sich manche Nazitäter entfremdet vorkommen, im Nachhinein sind für manche ihre eigenen Greueltaten unfaßbar, so daß sie ihre eigene Fremdheit nicht zur Sprache bringen können und schweigen müssen. Ihre Täterschaft paßt so gar nicht zum neuen Zeitgeist. Andere Nazitäter bewahren ihr Eigenes, bleiben sich treu und sagen sich „was früher richtig war, kann jetzt nicht plötzlich falsch sein!“ Viele oszillieren zwischen Fremdheit und Selbstbewahrung, ihre Verwirrung können sie nicht zum Ausdruck bringen und müssen ebenfalls schweigen. Für sie ist das Wechselgeschehen unaussprechbar. Unaussprechlichkeit wiederum ist durch die Erhöhung eine erneute traumatische Erfahrung, Aussprechbares ist lange nicht so schlimm.

Günter Grass steht in seinen Widersprüchen mittendrin in den Widersprüchen der Nation. Einerseits war er Mitbeteiligter, trägt in seinen Augen Mitverantwortung, andererseits hat er sich wenig vorzuwerfen. Eine Form der Abwehr der Schuld ist die Projektion, eigene Schuld an anderen zu bekämpfen und bei diesen anzuprangern. Angeprangert hat er reichlich und ist in den Augen vieler über’s Ziel hinaus geschossen. Umgekehrt ist festzuhalten, wenn der Adressat nicht hören will, muß man lauter und aufdringlicher werden, um gehört zu werden. Der tragische Kreislauf ist, daß der Zuhörer, der nicht hören will, gegenüber dem Lärm umso mehr die Ohren und Augen verschließt. Durch sein lautstarkes Anprangern hat Grass die Empfindungsschwelle der Verdränger herauf gesetzt, eine oft unauflösliche Wechselwirkung.

Andererseits fällt es ihm als nur gering Schuldigem nicht schwer, die Schuld anderer bloß zu stellen. Er sagt selbst, wäre er ein paar Jahre früher geboren, wäre er vielleicht in die Naziverbrechen einbezogen gewesen. Deswegen wirkt er glaubwürdig und unglaubwürdig zugleich, ergeben sich widersprüchliche Meinungen je nach Standpunkt und Abwehr oder Zugeständnis eigener Schuld des Zuhörers und Betrachters. Die Zuweisung der Schuld ist also eine Sache des Beobachters.

Während des Krieges wäre es lebensgefährlich gewesen, nicht zu schweigen, nach dem Krieg weniger, so daß der neue Zeitgeist ihm Raum und viel Beifall zur Kritik gab. Trotzdem verleugneten die meisten Deutschen ihre Untaten und die ihrer Väter, konfrontierten sich damit erst, als die meisten Verbrecher nicht mehr in den Ämtern saßen oder schon verstorben waren. Den Vätern direkt ihre Schuld ins Gesicht zu schleudern, wäre für viele Nachkömmlinge eine überfordernde Belastung gewesen und hätte in familiärer Selbstzerfleischung den Wiederaufbau, den die Väter maßgeblich übernahmen, und das Wirtschaftswunder erheblich belastet, so daß man schnell zur Tagesordnung überging. Somit wurde vielfach über Jahre und Jahrzehnte geschwiegen. Gerade darin sehen viele die Schuld, sich nicht zu bekennen, zu verdrängen, verleugnen bis zur Umkehrung in der Ausschwitzlüge und zu vergessen. In der Verleugnung und Nichtbewahrung des Bewußtseins könnte eine Wiederholung der Geschichte entstehen. Ansätze und neue Verbrechen zeigen sich bei den Neonazis. Nicht nur laut Freud schwelt das Unbewußte im Untergrund fort, entfaltet seine zerstörerische Wirkung und schreit deswegen nach Offenbarung und Erlösung. Das hat Grass nun getan, sehr zum Mißfallen der Verdränger und Schweiger und zur Irritation einer jüngeren Generation, die inzwischen innerlich so weit entfernt ist, daß sie das ganze Tohuwabohu nichts mehr anzugehen scheint.

Eine weitere Folge der Traumatisierung infolge des Verlustes des Differenzierungsvermögens ist die Pauschalisierung und die Neigung, Teile zum Ganzen zu erklären als „pars pro toto“. Allein beim Wort „SS“ fällt der Vorhang herunter, tritt die Verblendung ein, ähnlich wie die Nazis bei den Juden. Es werden nur noch die Verbrechen gesehen, als hätten alle gleich gehandelt, und wird nicht mehr unterschieden, daß manche weniger beteiligt waren, manche sogar sich helfend für Verfolgte einsetzten. Opfer dieser Pauschalisierung ist zur Zeit Günter Grass. Aber auch er selbst fühlt sich infolge seiner eigenen Pauschalisierung, wobei er zu wenig das Maß seiner eigenen Beteiligung berücksichtigt, mitschuldig.

Auf der anderer Seite wurde lange die Wehrmacht als tapfere Truppe hoch gehalten, und viele wehrten sich gegen die Offenlegung mancher Verbrechen in der Wehrmachtssaustellung, da sie sich pauschal angegriffen fühlten. Damals habe ich einen alten Herrn, der bei den Nazis als Halbjude galt, kennen gelernt, der nach vielen Diskriminierungen noch gut genug war, am Ende des Krieges als Kanonenfutter an vorderster Front eingesetzt zu werden, aber im Gegensatz zu vielen überlebt hatte und trotzdem beteuerte, daß er nicht an den Verbrechen beteiligt war, sich also mitangeklagt sah.

Für die Traumatisierung von Günter Grass spricht, daß er die Erfahrung des „Miefs“ des eigenen Elternhauses überall in der Gesellschaft sah, sieht und bekämpft, z.B. im Mief der katholischen Kirche, wozu diese auch viel Anlaß gibt, meiner Ansicht nach in den dogmatischen Anteilen und z.B in der Prüderie und Konsumanbetung der Fünfziger Jahre. Aber nicht alle waren und sind so. Das wird er auch wissen. - Ich lernte mal einen Mann kennen, der in die Psychiatrie eingewiesen wurde, weil er zu Hause das Dach abgedeckt hatte. Seine Begründung war, „um den Mief von Generationen herauszulassen“. Er hatte die Symbolik substantiell aufgefaßt und danach gehandelt. – Ähnliches geschah im Rassenwahn der Nazis, dem auch noch große Teile der Bevölkerung folgten. Umgekehrt sehen in ihm seine Kritiker, wenig seinen begründeten Kampf gegen das Vergessen wahrnehmend, den Schein der Doppelmoral und Selbstgerechtigkeit.

Meiner Erinnerung nach bin ich selbst, mitten im Krieg geboren, noch im Zeitgeist des absoluten Gehorsams und der Unterwürfigkeit geprägt und erzogen, der ja mit dem Ende des Krieges nicht aufhörte. Insofern sehe ich mich als Zeuge und Opfer der inneren Folgen und psychologischen Mechanismen, die nachhaltig wirken, für die ich eigentlich gar nichts kann, aber in denen ich auch zum Täter werde. Das Kleinkind sehe ich als Opfer seines Milieus, aber bald, auch schon als Kind, wird es zum Täter. Eltern wissen Legenden über die Taten und Untaten ihrer Kinder zu berichten, an deren Produktion sie selbst ursächlich beteiligt sind und diese am Kind festmachen. Hinsichtlich der Verbrechen hatte ich das Glück der späten Geburt, hinsichtlich des Zeitgeistes sehe ich mich voll integriert. Auch war meine Familie mehr gegen die Nazis eingestellt. Ich kann mir gut vorstellen, unter welchen Schuldgefühlen ich gelitten hätte, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Oder wurde vielleicht doch einiges verschwiegen? – zu meiner Rettung? Das Vergessen und Verschweigen dienen also einem narzißtischen Überleben, um nicht in Scham- und Schuldgefühlen zusammen zu brechen. Auf jeden Fall kenne ich die Lähmung des Gehirns, die Unfähigkeit kritische Fragen zu stellen, die bis heute andauert. Ich wäre früher nie auf die Idee gekommen, kritische Fragen zu stellen, und Autoritäten waren früher für mich unhinterfragbare Instanzen, gegen die ich zwar opponierte, aber die ich erst später hinterfragen konnte. Insofern war die 68er-Zeit auch für mich eine Befreiung. Mit 20 nach dem Abitur wäre ich noch brav, wenngleich widerwillig zur Bundeswehr gegangen. Mit 21 verstand ich mich mit jungen Franzosen bestens und wir sangen zusammen auf der Straße. Ich stellte mir vor, früher hätte ich sie bekämpfen müssen, jetzt verstand ich mich mit ihnen besser als mit vielen Deutschen. Vielleicht wäre es mir mit Russen genauso ergangen. Daraufhin verweigerte ich den Kriegsdienst. Aber trotzdem bin ich doppelbödig. Wenn ich von den Erfolgen der Wehrmacht gegen wesentlich stärkere Armeen lese, erfüllt mich immer noch Stolz. Bei den Untaten der RAF konnte ich die „klammheimliche Freude“ gut verstehen.

Einen Fall des narzißtischen Zusammenbruchs schildert Ute Scheub in ihrem Buch „Das falsche Leben. Eine Vatersuche“. Ihr Vater, ein Nazi-Verbrecher, hatte sich 1969 bei einer Lesung von Grass über sein neues Buch „Örtlich betäubt“ vor 2000 Zuhörern, ein Zeichen setzend „Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS!“, mit Zyankali umgebracht. Ihr Vater hatte geschwiegen, sich zu Hause wie ein Feldwebel aufgeführt und sich dadurch seinen Kindern entfremdet, zum Schluß infolge seiner Schuld an Depressionen gelitten und nur noch vor sich hingestiert. Andererseits hat er gegen die Wiederbewaffnung demonstriert und seinen Söhnen bei der Kriegsdienstverweigerung geholfen. Sie hat sich sehr mit dem Thema der Angehörigen beschäftigt, mit Frauen von Vietnam-Veteranen, die träumten, was ihnen ihre Männer nicht erzählen konnten, mit Kindern der Opfer vom Terroranschlag des 11.Septembers, die malten, was ihnen ihre Angehörigen verschwiegen. Leser schrieben ihr “in diesem Buch haben Sie meinen Vater beschrieben. Woher kenne sie meinen Vater?“ Diese Zuschriften weisen darauf hin, daß sich viele Täter in ihrem Nachfolgeverhalten sehr ähnlich verhielten. Ute Scheub schrieb das Buch zu ihrer eigenen Entlastung.

Der Aufschrei um die Grass-Bekenntnisse hat meiner Ansicht nach etwas mit der Suche nach der objektiven Wahrheit und der Verwirrung, beides Traumareaktionen, zu tun. Was ist denn nun wirklich? Ist Günter Grass als ehemaliger Waffen-SS-Angehöriger schuldig oder unschuldig? Traumatisierte Menschen wollen Fakten sehen, harte, unverrückbare, unwiderlegbare Fakten, am besten in der Form eines naturwissenschaftlichen Beweises, im Bild von Günter Grass der Bernstein. Wenn verschiedene und widersprüchliche Aspekte der Wahrheit auftauchen, tritt in der Suche nach der einzigen, alleinigen Wahrheit - deswegen der Run nach fundamentalistischen Religionen -, Verwirrung ein. Was ist denn nun wirklich wahr? Verwirrung und Chaos - man weiß nicht, woran man ist - machen unheimliche Angst und schreien nach absoluten und totalitären Lösungen. Auf der Suche nach der Wahrheit wären wir auf dem Weg nach einem neuen totalitären Regime. Deswegen lassen wir das besser offen, respektieren die sokratische Weisheit „ich weiß, daß ich nichts weiß“, denn je mehr ich weiß, desto mehr Fragen eröffnen sich. Und bei dem Thema der Vergangenheitsbewältigung sind noch viele Fragen offen.
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: redaktion@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 11.09. 2006
Foto: Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 11.09. 2006