Weltexpress
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Wissenschaft, Mensch, Leib & Seele
09. Dezember 10 , 15:52
Willensfreiheit aus neurobiologischer, strafrechtlicher,
philosophischer und theologischer Sicht - Serie: Willensfreiheit,
Entscheidungen, Verantwortung und Schuld am Beispiel des Strafvollzugs und des
Krankheitswesens (Teil 1/2)
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Der Lehrer Ernst August Wagner erschoss
1913 plötzlich und scheinbar grundlos auf der Straße ihm wildfremde Leute. Bei
seinem Daueraufenthalt zur Sicherheitsverwahrung in der Psychiatrie wurde er von
vielen Fachleuten aufgesucht und interviewt und hatte als gebildeter Mann selber
Bücher geschrieben. Er konnte sich aber eins nie eingestehen, nämlich, dass es
sein Wahn war, dass ihm jeder seine Sodomie ansehen würde. In seiner Überzeugung
musste die Straße also eine Bühne der abgrundtiefen und tödlichen Bloßstellung,
Verachtung und Schande darstellen. Diese ihn verachtenden Blicke hatte er
ausgelöscht. Hätte er sich den Wahn eingestanden, wäre seine Rache sinnlos
gewesen, und seine Untat hätte sicherlich zum Suizid geführt. Durch die
Nichtrealisierung des Wahns konnte er in seinem Weltbild seinen persönlichen
Sinn, sein Gerechtigkeitsempfinden und somit sein Leben aufrechterhalten. Der
Wahn war lebensrettend. Im Unterschied zu den meisten Amokläufern handelte es
bei ihm nicht um einen erweiterten Suizid, wo der Täter noch möglichst viele
wahllose Opfer in den Tod mitnimmt.
Wie ist diese unerklärliche Tat zu erklären? Der Mensch auf der Straße würde
voller Empörung die härteste Strafe fordern. Er hätte keinerlei Verständnis.
Sicher sehr vereinfacht, der Hirnforscher würde sie als Resultat seiner
Hirnprozesse erklären, so dass der Mörder sich nicht anders entscheiden konnte.
Der Strafrechtler sähe sie als ein scheußliches, strafwürdiges Verbrechen
entgegen der Rechtsordnung aus niederen Motiven an, würde lebenslange Haft oder
in manchen Kulturen die Todesstrafe fordern, für das es höchstens bei schweren
psychischen Erkrankungen Straffreiheit, aber dann eine Sicherheitsverwahrung
gibt. Schließlich ist bekannt, dass eine Therapie bei Mördern in den seltensten
Fällen weiter führt. Schwierig ist der Fall für das Strafrecht insofern, da es
sich bis auf diese Tat und diese eine Paranoia ansonsten um einen vernünftigen,
gebildeten und im Allgemeinen einsichtigen, also straffähigen Menschen handelte.
Der Theologe sähe die Tat als eine Sünde wider Gott, für die es nur im Jenseits
nach erfolgter Reue Verzeihung gäbe. Und der Philosoph? – für ihn weiß ich keine
Antwort, höchstens, seine Antwort fiele je nach philosophischer Ausrichtung aus.
Die Neurobiologie und Hirnforschung hat in den letzten Jahren die
Willensfreiheit und somit Schuldfähigkeit von Straftätern im Strafrecht infrage
gestellt, hält den Strafvollzug zumindest für diskussionswürdig und hat durch
ihre Thesen aus strafrechtlicher, philosophischer und theologischer Sicht
vehementen Widerspruch geerntet. Eine Jahrtausende alte Tradition im
Strafvollzug ist sozusagen auf den Kopf gestellt und ihre Grundfesten
erschüttert. Das beunruhigt, macht Angst und schafft Aggressionen. Wie kann es
sein, dass Straftäter für ihre Handlungen nicht mehr verantwortlich sind, da sie
keine Entscheidungs- und Willensfreiheit besitzen sollen? Die Aussage der
Hirnforschung ist, dass viele Straftäter durch ihre Hirnfunktionen determiniert
und somit nicht mehr entscheidungsfähig sind. Im Strafrecht wird die
Straffähigkeit lediglich bei schweren psychischen Erkrankungen und schweren
Persönlichkeitsstörungen infrage gestellt. Aber ob die Folgen wie
Sicherheitsverwahrung und sozialer Ächtung für den Täter humaner sind, bleibe
dahingestellt.
Die Frankfurter Rundschau hat sich dieses Themas angenommen und in einer
siebenteiligen Serie im Sommer 2010 Hirnforscher, Strafrechtler, Philosophen und
Theologen zu Worte kommen lassen. Unter der Überschrift "Haltet den Richter!" -
nicht "den Dieb!“ - erklärten gemeinsam der Neurobiologe Gerhard Roth und die
Juristin Grischa Merkel als Antwort auf den Strafrechtler Winfried Hassemer
ihren Standpunkt. Laut ihrer Aussage blieb der positive oder empirische Nachweis
des Strafrechts aus, dass Straftäter entscheidungs- und somit schuldfähig sind.
Insofern sei die Legitimationsgrundlage des Strafrechts nicht vorhanden. Zwar
verfügen viele Straftäter über die Fähigkeit der Einsicht, können aber nicht ihr
Handeln aus hirnorganischen oder psychischen Gründen danach ausrichten. Sie
machen die frühe Prägung des Gehirns durch soziale Interaktion, die unser
emotionales Erfahrungsgedächtnis formt, für die Schuldunfähigkeit
verantwortlich, beklagen dessen mangelnde Berücksichtigung im Strafrecht und die
Herabsetzung von Straftätern als Menschen zweiter Klasse und insofern eine
mangelnde Beachtung der Menschenwürde. Schon Mitte/Ende der siebziger Jahre
hatte die Psychoanalytikerin Ellen Reinke in ihrem Buch" Leiden schützt vor
Strafe nicht…" die doppelte Bestrafung von Straftätern angeprangert.
Der Strafrechtler Michael Walter sieht durch die Verneinung der Willensfreiheit
und der postulierten Zwangsläufigkeit unseres Verhaltens die Grundfesten des
geltenden Schuldstrafrechts erschüttert, unserer sozialen Ordnung den Boden
entzogen und dies als Provokation ersten Ranges. Er meint, wir können nicht zu
passiven Opfern individualgeschichtlicher Vorfälle reduziert werden. Die
Leugnung der Willensfreiheit stellt für ihn eine unzulässige Überinterpretation
einzelner biologischer Hirnprozesse dar. Das an die Normbeachtung appellierende
Kriminalrecht wäre dann eine große gesellschaftliche Lüge und alle Straftäter
vom Wirtschaftskriminellen bis zum Vergewaltiger würden zu Opfern einer unwahren
Freiheitsideologie gemacht. Er gibt aber Roth und Merkel insofern recht, dass
die Möglichkeit alternativen Entscheidens schwer nachweisbar ist. Für ihn ist
entscheidend, dass wir ohne die Vorstellung der Willensfreiheit schlicht nicht
leben können.
Der Philosoph Peter Janich sieht in der Hirnforschung insofern einen
Kategorienfehler, dass die Verschiedenheit der Kategorien des definierenden und
des definierten Teils ignoriert wird, da dem Versuchsaufbau und den Experimenten
der Neurobiologen eine Vorausschau aufgrund früherer Erfahrungen zugrunde
liegen, so dass in das Definieren eine Selbstdefinition einfließt und Natur
nicht von Kultur zu trennen ist.
In meinen Augen sind diese Kathegorien nicht scharf zu trennen. Das ist bei
allen Definitionen insofern der Fall, dass die Definition gleichzeitig über die
Erfahrungen und das Weltbild des Definierenden, also über ihn aussagt. In die
Beobachtungen fliessen immer die Augen des Beobachtenden ein, sogar in den
vermeintlich objektiven Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Aus meiner Sicht
könnte man insofern von einem Kategorienfehler sprechen, dass die Umsetzung von
Hirnprozessen in Bilder, Wahrnehmungen, Entscheidungen und Verhalten noch nicht
ausreichend geklärt ist, insofern sich die Naturwissenschaft in die
Geisteswissenschaft einmischt, obwohl Körper und Geist eine Einheit bilden.
Für den Strafrechtler Klaus Lüderssen ist für die Schuldfähigkeit von
entscheidender Bedeutung, ob sich eine zentrale Schaltstelle im Hirn, eine
neuronale Repräsentation, das " Ich", finden lässt, oder ob das Gehirn dezentral
organisiert ist. Für diese zentrale Schaltstelle hat die Neurobiologie bisher
nicht den Nachweis erbracht. Für ihn entspricht ohnehin nur das Schuldprinzip
der Würde des Menschen. Wenn bisher verborgene Hirnfunktionen entdeckt werden,
die die partielle Zwangsläufigkeit im Handeln des Menschen nach sich ziehen,
dann müsse der Kreis der ohnehin schon zahlreich gewordenen
Schuldausschließungen erweitert werden. Die Bestrafung wäre in solchen Fällen
ausgeschlossen und nur sichernde Maßnahmen im Rahmen der Menschenwürde währen
zulässig. Resozialisierungsmaßnahmen hätten zur Voraussetzung, dass der Täter
sein Unrecht einsehen könnte. Er geht sogar soweit, dass im Falle, wenn der
Täter selbst nicht von der Legitimität der Strafvorschrift überzeugt ist, vor
niemandem verlangt werden kann, dass er seine abweichende Meinung sozusagen auf
dem Altar verfassungsrechtlich verbürgter Werte opfert.
Diese Überzeugung spiegelt aber nicht die Praxis des Strafvollzugs wieder. Dort
werden uneinsichtige Täter härter bestraft als in ihre Schuld einsichtige. In
Fernsehkrimisendungen kommen am Schluss oft die Straftäter zu Worte und erklären
ihre Gründe. Dabei wird deutlich, dass sie ein ganz anderes Rechtsverständnis
als unsere Rechtsordnung haben, also sich im Recht sehen. Die Mafia hält sich
selbst für eine „ehrenwerte Gesellschaft“ und handelt nach anderen und ihren
Gesetzen. Die Schuldfähigkeit von einer zentralen oder dezentralen Organisation
des Gehirns abhängig zu machen, ist mir nicht ganz eingängig. Da eine zentrale
Schaltstelle nicht gefunden wurde, ist von einer dezentralen Organisation
auszugehen. Dieser Umstand spricht eher gegen eine Schuldfähigkeit. Eine
zentrale Organisation entspricht aber einer tief verwurzelten Kultur, vor allem
in monotheistischen Religionen, ganz im Gegensatz zur Naturwissenschaft, wo die
Welt eine unendliche Ansammlung von sich gegenseitig beeinflussenden
Schaltstellen und Zentren ist, aus denen sie ihre heutige Struktur entwickelt
hat.
Für den Philosophen Michael Powell sind Straftäter sehr häufig in ihrer Urteils-
und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt. Sie können ihre Gewaltbereitschaft
nur schlecht kontrollieren und kaum aus negativen Erfahrungen lernen, so dass
Strafe wenig bewirken kann und zu den höchsten Rückfallquoten führt. Die
Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit liefert uns aber
den Schuldbegriff. Auch wenn die Neurobiologie nicht zu einer fundamentalen
Revision unseres Strafsystems führe, könne man ihre Erkenntnisse nicht
ignorieren. Durch sie könne man eine klarere Vorstellung von Schuldfähigkeit und
Verantwortung gewinnen. Schuldfähigkeit setze voraus, dass man anders hätte
handeln und Gesetze und Normen einhalten können. Ob der Mensch etwas könne oder
nicht, hänge nämlich von äußeren Umständen und seinen Fähigkeiten ab. Aber, die
Forderung nach Aufgabe des Schuldprinzips widerspricht sich selbst. Wenn niemand
mehr bestraft, zur Rechenschaft gezogen oder verantwortlich gemacht würde,
könnte sich jeder Richter, der ungerecht bestraft, jeder Politiker, der
schlechte Arbeit leistet, auf seine Schuldunfähigkeit berufen. Also muss auch
eine fundamentale Reform des Schuldprinzips und Strafrechts die Vorstellung von
Verantwortung und Schuldfähigkeit voraussetzen, die sie wiederum selbst
bestreitet.
Der katholische Moraltheologe Franz- Josef Bormann meint, die Frage nach dem
rechten Verständnis von Freiheit, Schuld und Verantwortung sei nicht nur eine
Frage der Rechtswissenschaft und der Hirnforschung. Kristallisationspunkt seien
auch die Zuständigkeitsbereiche und die Spielregeln. Er hält die Daten und
Behauptungen der Hirnforschung vielmehr für das Ergebnis einer
wissenschaftstheoretisch unreflektierten Hybris, die die Reichweite
naturwissenschaftlicher Tatsachen heillos überschätzt. Das freie Entscheidungen
von ihren physiologischen Vorgängen begleitet sind, können weder deren
Freiwilligkeit erschüttern, noch einen strengen Determinismus begründen. Da die
wirklich fundamentalen Naturgesetze zudem keine Gesetze über die zeitliche
Abfolge von Ereignissen seien, sondern vielmehr die Korrelation zwischen
bestimmten physikalischen Kräften betreffen, könnten diese Gesetze den Weltlauf
auch nicht deterministisch fixieren. Die Ebene des „Entscheidens, Beabsichtigens
oder Überlegens“ unterscheide sich von der naturwissenschaftlichen Ebene
bestimmter quantifizierbarer Bereitschaftspotenziale in verschiedenen
Hirnarealen. Dort sieht er den oft erhobenen Vorwurf des Kategorienfehlers.
In der Debatte um die Willensfreiheit sieht er nicht nur die
Entscheidungsfähigkeit, sondern eine vielschichtigere Kompetenz wie die
Fähigkeit, Handlungsabläufe zu entwerfen, zu verfeinern und zu revidieren,
eigene Wünsche und Sehnsüchte auf ihre Berechtigung und Realisierbarkeit
überprüfen und notfalls zu korrigieren. Eine absolute Freiheit gebe es nur bei
Gott. Menschliche Freiheit sei dagegen immer aufgrund ihrer kreatürlichen
Verfasstheit eine begrenzte Freiheit und tief in die sozialen
Verhaltenserwartungen unseres alltäglichen Miteinanders eingeschrieben. Die
Eigenverantwortlichkeit stelle die Menschenwürde dar. Wer die menschliche
Freiheit grundsätzlich leugne, leugne nicht nur unsere Rechtsordnung, sondern
auch „unsere Welt“. Freiheit und Verantwortung sei nicht zu trennen, gehören
zusammen, sind aber voneinander zu unterscheiden.
Verantwortung sei ein dreidimensionaler Begriff, der die Beziehung zwischen
einem Subjekt, einem Gegenstandsbereich und einer Instanz bezeichne, vor der
sich das Subjekt für sein Handeln zu verantworten habe. Hinsichtlich jeder
dieser drei Pole bestehe die Gefahr der Sinnverkürzung. Meist werde unter dem
Subjekt der Verantwortung der private Akteur verstanden und alle
institutionellen und kollektiven Handlungssubjekte ausgeblendet, obwohl deren
Handeln etwa im Bereich von Politik und Wirtschaft mittlerweile die viel
größeren Gefahrenpotenziale enthalte. Hinsichtlich des Gegenstandsbereich
schränken wir den Verantwortung gerne auf die Folgehaftung ein und übersehen
eine vorausschauende Vorsorgeverantwortung. Der dritte Pol, die Instanz
kontrolliert und sanktioniert umso besser, je individueller und lokal begrenzter
der jeweilige Träger handelt und klammert institutionelle Verantwortliche oft
aus.
Die Ausführungen über die Verantwortung und dessen, was er Sinnverkürzung nennt,
kann ich voll unterschreiben. Die Freiheit Gottes, Unglück und Elend in die Welt
zu bringen, vor allem wenn sie selbst betroffen sind, lässt manche gläubige
Christen an seiner Allmacht verzweifeln und mit Gott hadern. Für dogmatische
Christen ist dies eine Prüfung des Glaubens an Gott, siehe Hiob und die
Hiobsbotschaften, und eine Hybris, sich über Gott zu stellen und seine (Un)Taten
zu beurteilen. Die angeführte vielschichtigere Kompetenz, Handlungsabläufe zu
entwerfen, haben viele Menschen nicht.
Als Letzter kommt der Philosoph Lutz Wingert zu Wort. Für ihn fassen die
Hirnforscher die soziale Welt zu sehr als ein Fall technischen Handelns auf. Er
hebt neben der Schuldfähigkeit den Begriff des Verdienstes im Sinne der sozialen
Achtung hervor. Wenn man auf den Schuldbegriff verzichten würde, könnte man
nicht die Wiederherstellungsfunktion des Strafrechts erfassen. Das Strafrecht
soll die beschädigte soziale Beziehung wie durch Schadensersatz und Opferschutz
wiederherstellen. Die Strafpraxis und die sie tragenden Denkmuster sind jedoch
keine heiligen Kühe, nur weil die Praxis eingespielt und die Denkmuster
eingefahren sind. Insofern hält er die Abschirmung gegenüber der
Neurowissenschaft nicht von vornherein für gerechtfertigt. Es gehöre zu den
philosophisch eindrucksvollen Ergebnissen, dass die Hirnforschung viele Fälle
vorführe, in denen wir uns nicht nur über die Beweggründe unseres Tuns täuschen,
sondern auch noch über die Art dieses Tuns (Konfabulieren). Eigenes, gewolltes
Benehmen sei oft ein Marionettenverhalten, das zum Teil durch Magnetstimulation
des Gehirns erzeugt werden könne.
Naturgemäß konnte ich aus den meist zweiseitigen Beiträgen nur Auszüge anführen.
Sowohl Hardliner als auch humane Wissenschaftler, die die verschiedenen Aspekte
anerkannten, kamen zu Wort. Deutlich wurde die Aggression der
Geisteswissenschaftler auf die Naturwissenschaft, sich in ihre Domäne
einzumischen oder sie sogar mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu
okkupieren, obwohl Gerhard Roth bei der Prägung der Gehirnprozesse durchaus die
in sozialen Beziehungen eingebetteten geistigen und emotionalen Prozesse
einbezog. Diese Aggression kann ich als Arzt durchaus verstehen, da auch im
Gesundheitswesen emotionale soziale Prozesse auf naturwissenschaftliche
Erklärungen, etwa in der Anlage oder im Transmitterstoffwechsel, reduziert
werden. Diese Vorgänge tragen in keiner Weise dem Erkrankten in seinen sozialen
Bezügen Rechnung. Der ursprüngliche Siegeszug der naturwissenschaftlichen
Medizin über den mittelalterlichen Aber- und Geisterglauben hat sich zum Teil
ins Gegenteil verkehrt und sich zu einem neuen Aberglauben an die Technik
ausgewachsen.
Auffallend ist, dass kein Psychologe, Entwicklungspsychologe, Tiefenpsychologe
oder Psychoanalytiker zu Wort kam. Ob diese Auswahl Zufall oder Absicht ist,
bleibe dahingestellt. Jedenfalls kann in meinen Augen die Psychoanalyse eine
fundierte Aussage treffen, die zum Teil mit der Aussage der Hirnforschung
übereinstimmt, wenn diese wie Gerhard Roth die sozialen Prägeprozesse mit ihren
Niederschlägen im Gehirn einbezieht. Dazu gibt es eine neue Forschungsrichtung,
die Epigenetik. Nach ihren Erkenntnissen werden in der Kindheit durch soziale
Einflüsse Gene ein- oder ausgeschaltet und das kann lebenslang bestehen bleiben.
Nach psychoanalytischen Erkenntnissen ist es ein alter Hut, dass der Mensch
nicht Herr seines Seelen- und Innenlebens ist und oft sozusagen von dunklen
Mächten beherrscht wird. Die Sichtweise dieser Disziplin, so wie ich sie mir
angeeignet habe, also nach meinem Erfahrungsstand, möchte ich deswegen im
nächsten Teil der Serie nachholen.
Von Bernd Holstiege