Tiefenpsychologische Erwägungen zum Sensationsfall des Kannibalen von Rotenburg.

 

Wodurch es zur Einverleibung kommt.

 

Der Fall weckt beim Leser Grausen und Abscheu, aber auch Lust an der Sensation, so daß sogar eine Vermarktung und Verfilmung erfolgte. Wie mag es möglich sein, daß ein äußerlich unauffälliger, freundlicher, hilfsbreiter, netter Zeitgenosse und Nachbar zu einer so gruseligen Tat fähig ist? Die Motivation zur erneuten Beschäftigung mit und dem Schreiben über dieses Thema wärmte eine Kritische Glosse von Hans-Volker Werthmann in der Zeitschrift „Psyche“ mit dem Titel „Psychoanalytische Anmerkungen zum Rotenburger Kannibalismus-Fall“ massiv auf.

 

Sicher, der Kannibale ist in schwer gestörten Familienverhältnissen aufgewachsen, in denen es leicht zu psychischen und perversen Fehlentwicklungen kommen kann; die Mutter 19 Jahre älter als der Vater, Trennung der Eltern im Alter von 9 und Verlust des älteren Bruders. Er ist also ohne Vater und männliche Bezugspersonen aufgewachsen und, wie in solchen Fällen häufig, als Folge in einer eng verstrickten Mutterbindung. Die Mutter blieb häufig in der Nähe des erwachsenen jungen Mannes z. B. in der Bundeswehrzeit und wohnte mit ihm zusammen. Anzunehmen ist, daß die Mutter aufgrund eigener Enttäuschungen und Verletzungen ihn in einer ihn als Mann entwertenden, und zudem in einer entwerteten Männerwelt aufwachsen ließ. Ein Mann zu werden mußte für ihn demzufolge die größte Entwertung und ein Tabu darstellen. Die Mutternähe bedeutet für einen jungen Mann zusätzlich eine ungeheure Kränkung und Peinlichkeit im Angesicht der Männerwelt, sozusagen ein „Muttersöhnchen“ zu sein.

 

Kinder sind grundsätzlich ihrem Primärmilieu ausgeliefert und werden von diesem geprägt. In einer engen und verstrickten Beziehung zur Mutter – das könnten auch eine Oma, der allein erziehende Vater, beide Eltern oder andere enge Bezugspersonen in der frühen Entwicklung sein - finden mehrfache Verluste statt:

1. der Verlust der Mutter in ihrer Mutterfunktion,

2. durch eine Rollenumkehr (Paternalisierung, das Kind gerät in eine Elternfunktion bzw. -rolle für die eigenen Eltern), wobei der Sohn für die Mutter da zu sein hat und nicht die Mutter für den Sohn da ist, und

3. sich selbst als eigenständiges Wesen, einem Selbstverlust, und als Mann zu verlieren. Er wird sozusagen von der Mutter einverleibt. In dieser Einverleibung sind die Ohnmacht, Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein in der Autonomiefindung als selbständiger Mann das eigentliche Trauma, vor allem, da Vater und Bruder als Gegengewicht und Alternativpersonen fehlten. Dieser mehrfache Verlust findet sich mehr oder weniger bei depressiven Störungen, wobei das Kind nicht zu einer eigenen autonomen anerkannten Identität kommt, bei der Mutter oder den Eltern einbezogen und meist mit der Mutter und ihrem Weltbild identifiziert ist. Es besteht also eine Gemeinsamkeit bzw. Verschmelzung im Selbst- und Weltbild.

 

Eine enge, verstrickte Mutterbeziehung ergibt sich dadurch, daß die Mutter selbst schwer traumatisiert ist, ebenfalls unter den oben angeführten mehrfachen Verlusten leidet und die Einverleibung des Kindes für die eigene existentielle Stabilität dringend benötigt. Eigene Autonomieschritte des Kindes würden bei ihr Verlustängste wecken, als Bedrohung erlebt, wodurch sie ihr Kind nicht loslassen kann. Das Kind übernimmt die Ängste, hat ebenfalls Angst, die Mutter zu verlieren und klammert sich an sie. Die Mutter erlangt Macht über das Kind und das Kind über die Mutter. Zur Überwindung der Ängste beider erlangen sie also Macht übereinander. Autonomieschritte würden beidseitig als Loyalitätsbruch oder Verrat interpretiert. Ohnmacht und Angst werden in Macht umgewandelt. Es steckt also nicht böswilliger Sadismus dahinter, obwohl dies vielfach so gesehen wird, sondern existentielle Bedürftigkeit und Angst.

 

Die Bindung an die Mutter wird noch durch den Anspruch der Dankbarkeit für die Bemühungen der Mutter verschärft. Durch diesen Anspruch haftet die Mutter am Kind. Umgekehrt haftet das Kind an der Mutter, das ebenfalls für seine (Über)Anpassung Dankbarkeit und Lohn beansprucht. Je mehr sich beide Seiten bemühen, desto mehr Gratifikationen beanspruchen sie. Diese beinhalten die gegenseitige Einverleibung. Ich führe nicht Wünsche oder Erwartungen an, denn auf diese kann verzichtet werden, aber auf Ansprüche nicht, da sie einen wesentlich stärkeren vitalen oder existentiellen Charakter der Selbstaufgabe voraussetzen. Die Ansprüche schaffen Haß und Aggressionen und deren Nichterfüllung und die Enttäuschungen in der Beziehung ebenfalls Aggressionen und wegen des Loyalitätsbruchs Schuldgefühle und gegenseitige Entwertungen. Die Wiedergutmachung der Schuldgefühle verstärkt die Abhängigkeit.

 

Im Leben des Kannibalen nahmen kannibalische Phantasien schon früh einen zentralen Raum ein. Allein mit der Mutter, von Vater und Bruder als männliche Vorbilder, der weiteren wichtigen Bezugsperson der Oma und vor allem von sich selbst in seiner Identitäts- und Autonomiefindung verlassen, träumte er ab 12 Jahren davon, durch die Einverleibung eines Jungen, sozusagen als Bruder, nie mehr verlassen zu werden. Er begegnete dem Verlust in der Phantasie und im Traum durch die Einverleibung. Der Bruder stellt den Ersatz für die Mutter, den Vater und für sich selber und alle möglichen Bezugspersonen dar, die er dann in seiner inneren Welt für alle Zeiten sicher in sich hat. Neben homosexuellen Kontakten träumte er von einer Familie mit vielen Kindern, aber avisierte Frauen nahmen durch die Nähe und Konkurrenz der Mutter schnell Abstand. Dadurch konnte er keine tragenden anderweitigen Beziehungen aufbauen, diese blieben ein Traum, und er verharrte in der Mutterabhängigkeit.

 

Eine Umsetzung des Traumes in reale Handlungen fand jedoch erst nach dem Tode der Mutter 1999 statt. Einen Schlachtraum mit der Suche nach geeigneten Opfern in Internetforen richtete er sich erst dann ein. Eine kausale Beziehung sehe ich darin, daß der Verlust einer „schlechten“ Mutter meist noch tragischer und katastrophaler erlebt wird als der einer „guten“ Mutter. Zur schlechten Mutter bestehen noch größere Anhänglichkeit und Abhängigkeit, das Kind klebt sozusagen an einer derartigen Mutter. In ihr wird ein positiver Identitätsaufbau, sonst ist ja niemand da, erhofft und gesucht, tragischerweise gerade dort, wo er nicht zu finden ist. Fehlt dieser, kann eine Loslösung nicht erfolgen, da ein positiver Identitätsaufbau gerade dann noch unabdingbar ist. Weiterhin entstehen durch den Verlust Verlassenheits(Verlust)gefühle und –ängste mit schweren Aggressionen gegenüber der Mutter, weil sie ihn im Stich gelassen hat, die vermutete Böswilligkeit, dem Umfeld und der eigenen Person, da jedes Kind sich an seinem Zustand schuldig fühlt. Auch schaffen die Aggressionen Schuldgefühle.

 

Die Ängste, die die Mutter beherrschen, die ihr selbst nicht ein eigenes Leben außerhalb ihres Sohnes ermöglichen, hat die Mutter im Sohn geschaffen. Diese lassen ihn an ihr haften, verhindern seine Loslösung und neue intensive Beziehungen zu Frauen. Dadurch dient diese Mutter wie eine alma mater als Schutz vor diesen Ängsten. Die Verstrickung in der Erfahrung der Mutterbeziehung lassen ihn diese in weiteren Beziehungen, vor allem zu Frauen, fürchten. Dieser Sachverhalt findet sich in vielen psychischen und organischen Störungen und Krankheiten als Risikofaktor wieder und gewährleistet die Kontinuität der Abhängigkeit. Im Falle des Kannibalen weist die geringe Berücksichtigung dieser mehr als problematischen Mutterbeziehung sowohl im Gerichtsverfahren als auch in der Werthmann-Glosse, die ihr Augenmerk mehr auf andere Bereiche gerichtet hatte, auf ein oft geübtes Tabu der Infragestellung und Betrachtung der Mutterbeziehung hin. Im Falle der traumatisierten und traumatisierenden Beziehungen ist diese auch gar zu schwierig.

 

Werthmann schildert nach Abraham und Freud, daß kannibalische Phantasien vermehrt bei schwer Depressiven vorhanden sind und in abgeschwächter Form überhaupt im Liebesleben eine tragende Rolle spielen. Die Angst vor Einverleibung und dem Gefressenwerden wirke sich bei der Hingabe im Sexualakt aus. Wenn das Kind von der Mutter einverleibt wurde, für diese und ihre Ansprüche da zu sein, ihre Ängste zu verhindern und ihren Geboten ohne eigene Berücksichtigung und eigene autonome Schritte zu gehorchen, wird diese Angst in der Übertragung beim Partner wieder erlebt und führt zu Sexualstörungen. Werthmann nutzte diesen Fall zu allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Erörterungen.

 

Aber warum verbleibt der Kannibalismus nicht auf der Phantasie- oder symbolischen Ebene, sondern wird in realer und konkretistischer Form durchgeführt? Ich erkläre mir dies durch die existentielle Bedrohung des Verlustes des Mutterobjektes und des Selbstverlustes auf dem Hintergrund der schweren frühkindlichen traumatischen Erfahrungen. Objekt und Selbst sind bzw. waren vor dem Tod der Mutter eine Einheit. Den Knack- und Wendepunkt vermute ich infolge des Todes der Mutter in dem Verlust der Hoffnung, doch noch durch seine Mutter die eigene Identität zu erlangen, und vor allem in dem Verlust der Macht über die Mutter. Durch diese Macht vervollständigte er seine Identität, verleibt sich die Mutter sozusagen ein, wie überhaupt Macht über andere zur Vervollständigung des eigenen Selbst dienen können. Vorher stellte die Mutter einen Teilbereich seiner Identitätserfahrung dar. Der Verlust der Mutter bedeutet sozusagen einen Verlust seiner selbst, eines Teiles der eigenen Person. Diesen existentiellen Verlust kann er zumindest in seiner Illusion durch die Einverleibung eines Ersatzobjektes kompensieren und sich dadurch vervollständigen. Insofern ist der Kannibalismus schon fast eine gelungene Form der Abwehr des Selbstverlustes, Kompensation und Selbstvervollständigung. Schließlich kenne ich viele Fälle, wo in derartigen verstrickten Beziehungen nach dem Tode des Einen, der Andere sein Leben durch Selbstmord oder teilweise in schweren körperlichen oder seelischen Erkrankungen verliert.

Über die Person und den Hintergrund des Aufgegessenen findet sich kaum etwas in der Literatur und im Gerichtsverfahren. Es sind aber ähnliche Hintergründe zu vermuten. Diese extreme Form des Masochismus stellt die Kehrseite des Sadismus dar.

 

Zusätzlich wird die Umsetzung durch die Anonymität der Internetforen gefördert. Nach Angaben des hessischen Landeskriminalamts hatte der Kannibale per Internet Kontakt mit 29 Gleichgesinnten. 204 Menschen hätten sich „Frankie“ (vielleicht in Erinnerung an Frankenstein), wie er sich im Internet nannte, als Schlacht- oder Mißhandlungsopfer angeboten, 13 hätten gerne zusehen oder mitmachen wollen. Dort herumzustöbern, geeignete Partner zu finden, erfordert viel Zeit, welche einerseits zwischenmenschlichen Kontakten verloren geht, andererseits vor diesen schützt.

 

Aber warum tritt ein Mensch, der so voller Aggressionen, Ängste und Entwertungen steckt, nach außen unauffällig, freundlich und hilfsbereit auf? Ähnliches wird oft berichtet. Dann müßte man ja im freundlichen Nachbarn das Ungeheuer fürchten. Die Aggression und der Haß als Kehrseite der Liebe und Abhängigkeit zur Mutter und das weitere Umfeld schlägt sich in der Identifizierung, in der er einen Teilbereich seiner Mutter und in der Übertragung des weiteren Umfeldes darstellt, deswegen in Selbsthaß und –entwertung nieder. Die Bloßstellung von Haß und Entwertung werden im Umfeld gefürchtet. Deshalb muß diese Bloßstellung mit allen Mitteln verhindert werden. Zur Verschleierung dient der normale freundliche, hilfreiche äußere Kontakt, wie das oft bei Sexualstraftätern, aber auch bei sozialen Ängsten der Fall ist. Die unterdrückten nach außen vermiedenen Ängste und Aggressionen verursachen einen Vulkan im Innenleben, äußere Kontakte führen zu vermehrten Anstrengungen und Belastungen, so daß Kontakte gemieden werden müssen.

 

Darüber hinaus spielen reale Handlung und Konkretismus kulturell eine tragende Rolle. Wut und Haß auf die Juden und alles Schwache führte im Nazireich zu Mord und Genozid, führt vielfach jederzeit in der Welt zu Kriegen. (Siehe den Artikel über Günter Grass.) Eine mildere, alltägliche Form der Umsetzung von Symbolik in Handlungen findet z.B. im Gesundheitswesen statt, wo operiert und auf körperlicher Ebene behandelt wird, statt sich mit dem inneren seelischen Drama auseinander zu setzen. Psychisch und Somatisierungskranke geraten in Legitimationsschwierigkeiten „wo nichts kaputt ist, kann auch kein Schmerz vorhanden sein“, da sie keinen behandelbaren Organbefund vorzuweisen haben. Durch diese ihnen fehlende Anerkennung werden die Kranken um so kränker. Ihr einziger Ausweg, ihre Rettung und von der Organmedizin angeboten, ist oft, einen organischen Defekt oder zumindest eine anlagebedingte Transmitterstoffwechselstörung zu haben.

 

Daß schwer erfaßbar ist, daß ein äußerlich normaler Mensch derartig abgrundtief abscheuliche Handlungen durchführen kann, weist auf die kulturelle Ignoranz und Abwehr der Tiefe des Innenlebens, der Macht seiner Erfahrungen und Auswirkungen wie zu Freudschen Zeiten hin. Nur das Äußere und die Handlungen gelten. Deswegen sind Ruf, Image und guter Eindruck so wichtig, und für diese Illusion, äußeren Schein oder die Maske wird von traumatisierten Menschen alles getan. Aufgrund des Verlustes des Differenzierungsvermögens des Traumatisierten wird Schein für Sein gehalten. Ich halte das auch nicht für verwunderlich, da es sich bei der Entwertung, etwa unten durch zu sein und geächtet zu werden, um massiv bedrohliche Dinge auch für das körperliche Überleben handelt. Hinter manchem Kampf um das körperliche Leben steckt also der Kampf um das seelische narzißtische Überleben.

 

Einen guten Zugang zur frühen Mutter-Kindbeziehung stellt der Stillvorgang oder das Fläschchengeben dar. Dabei handelt es sich nicht nur um eine körperlich-existentielle Nahrung, sondern interaktiv auch um eine existentielle seelische Nahrung. Dazu eine eigene Erfahrung: Ich gab meiner 3 bis 4 Wochen alten Tochter die Flasche. Das war mir zu langweilig, und ich las nebenher Zeitung. Das Biest (Ausdruck meiner Aggression!) trank nicht, das wiederholte sich, bis ich langsam merkte, ich mußte mich dem Kind zuwenden, dann trank es die Flasche schnell leer. Ich staunte über die Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings. Mir fehlte anfangs die Empathie, das fehlende Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse des Kindes. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte weiter Zeitung gelesen, ohne etwas zu merken, wäre es für das Kind auf Dauer zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen. Entweder es wäre körperlich verhungert oder hätte auf die Beziehungsnahrung verzichtet, wäre also seelisch verhungert, beides existentiell notwendige Lebensvoraussetzungen. Das Nichttrinken des Kindes war sein seelisches Überlebenszeichen. Ich erzählte den Vorgang öfter. Meist hörte ich „das ist doch ganz klar!“  Aber ich nehme an, manchen Mütter und Vätern ist das nicht klar.

Gerd Overbeck schilderte vor einigen Jahren auf einer Tagung folgenden Vorgang: Ein Säugling war mit lebensbedrohlichen Koliken in die Klinik eingewiesen worden, bis das Personal zufällig feststellte, daß die Mutter während des Stillens meist telephonierte. Als ihr erklärt wurde, daß sie das auf keinen Fall tun dürfe, ließen die Koliken nach, und das Kind konnte geheilt entlassen werden.

 

Manche Mütter erleben den Stillvorgang nicht als hingebungsvolle, vertraute Zweisamkeit und verspüren in ihrer weithin anerzogenen Lustfeindlichkeit keine erotische Lust, wenn jemand an ihrer Brust nuckelt – dazu die Übersetzung eines kongolesischen Liedes „Morgens sind Mamas Brüste für das Baby da, abends für Papa …“ -, vor allem wenn sie in einer postnatalen Depression versunken sind. Sie haben ganz andere Dinge im Kopf, als sich ihrem Kind zuzuwenden wie die Anerkennung im Beruf, den Streit mit der Mutter oder Schwiegermutter um die richtige Erziehung, etwa, ob man das Kind stundenlang schreien lassen müsse, fürchten, etwas falsch zu machen oder gar den plötzlichen Kindstod, erleben das Kind als Last und Aufopferung – eine Patientin stellte sich ein Kind als ewige Fürsorge und Aufopferung vor - bis zum Monstrum, das sie aussaugt. Ihre Angst ist, das Kind verleibe sie sich sozusagen ein. Sie erleiden durch das Kind massive Entbehrungen. Ihre Spannungen, Ängste, Sorgen und Aggressionen schwappen auf das Kind über, daß nicht mehr genüßlich saugen kann, sondern ebenfalls in Spannungen gerät und evtl. zubeißt, eine Ursache für Brustwarzenentzündungen der Mütter.

 

Später setzen sich die Ängste, Sorgen und Aggressionen fort, für die sie das Kind anschuldigen „Du bereitest mir Sorgen, Kummer und Ärger!“, in Situationen und bei Verhaltensweisen, wo andere Mütter überhaupt keine negativen Gefühle empfinden und ruhig und gelassen bleiben können. Das Kind übernimmt die Schuldgefühle, fühlt sich zutiefst schuldig und erlebt Versagensgefühle. Es kann wenig Wärme, Halt, Geborgenheit, Gelassenheit und Sicherheit für seine Reifung integrieren und bleibt trotz bester Fütterung ebenso wie seine Mutter bedürftig und hungrig nach dem, was es entbehrt. Ein tragischer Kreislauf! Für diese dunkle frühkindliche Vergangenheit besteht naturgemäß keine Erinnerung, höchstens als dumpfes, depressives Lebensgefühl und, wie der Kannibale berichtet, eine „innere Leere“. Diese lebt leider transgenerationell in der Beziehung zum eigenen Kind wieder auf.

 

Ich stelle mir vor, beim Kannibalen sind derartige Entbehrungen existentiell bedrohlich abgelaufen. Der kannibalische Akt ist ein komplexes Geschehen, in dem mehrere Ziele ablaufen, in denen es um das körperliche und seelisch-narzißtische Überleben geht. Zum einen wehrt er nicht nur die innere Leere, sondern auch das Zerbrechen und eine latente Psychose ab. Die Ohnmacht wird in Macht, das Unglück in Glück umgewandelt. Beides braucht er existentiell. Da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsentwurf real sind, können sie nur als realer Akt kompensiert und ausgelöscht werden.

 

Zum anderen geht es in der körperlichen Verspeisung jedoch nicht nur um die Einverleibung, sondern auch um die Zerstörung des bösen Objektes, das dadurch für immer unschädlich gemacht wird. Die Verspeisung hat dadurch einen Doppelcharakter, einmal das ersehnte gute Objekt sich für ewig zu eigen zu machen, zum anderen das böse Objekt gerade dadurch zu zerstören und sich an ihm zu rächen. Man mag über den Doppelcharakter der milden symbolischen Form der Verspeisung des Leibes Christi bei der Kommunion in der katholischen Kirche spekulieren. Schließlich ist Gott nicht nur ein guter errettender Gott, sondern auch ein böser verurteilender Gott, der vor den Sünden rettet, die er selber geschaffen hat. Der Fall des Rotenburger Kannibalismus ist zwar ein extremer Fall, aber in milderer, nicht nur symbolischer Form findet die Einverleibung kulturell zwischenmenschlich vielfach statt. Alleine schon die Beherrschung eines anderen in Geboten und Verboten, die alltäglichen Übergriffe vor allem in der Kindheitsentwicklung, könnte man als Akt der Einverleibung begreifen.

 

Die Transformierung traumatischer Familienverhältnisse stellt sich im Mythos in meinen Augen recht gut in der Biblische Schöpfungsgeschichte und den Erlösungsmythen (Heilige Familie, Kreuzigung, deutsche Märchen) dar. Zur weiteren Vertiefung verweise ich auf die Artikel über die Psychotraumatisierung.

 

Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich