Neurobiologie

Wahrnehmung aus neurobiologischer und tiefenpsychologischer Sicht

In diesem Aufsatz möchte ich die in meinen Augen weitgehende Übereinstimmung geistiger und seelischer Prozesse aus naturwissenschaftlicher Sichtweise, der Hirnforschung aus neurobiologischer Sicht, und aus geisteswissenschaftlicher Sicht, der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse, darstellen. Aus einer anderen Warte lassen sich die Erfahrungen und (Hypo)Thesen von Psychologie und Psychoanalyse aus naturwissenschaftlicher- biologischer Sicht erklären. Tiefenpsychologie und Psychoanalyse möchte ich hier nicht unterscheiden. Mir geht es darum, die Erfahrungen der Hirnforschung auf psychische und zwischenmenschliche Prozesse zu übersetzen, dabei vor allem aus medizinischer Sicht auf menschliche und zwischenmenschliche Konflikte und das Krankheitsgeschehen. Mir selbst hat die neurobiologische Sicht geholfen, mir die psychischen, somatischen und psychosozialen Zusammenhänge noch mehr zu verdeutlichen.

Die neurobiologische Sicht entnehme ich einem Artikel vom 28.9.00 in der FAZ über einen Eröffnungsvortrag zum 43. Deutschen Historikertag von Prof. Dr. Wolf Singer mit der Überschrift „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen“. Er machte sich Gedanken über die Zuverlässigkeit von Geschichtsdarstellung durch Zeitzeugen und inwieweit historische Dokumente ein adäquates Zeugnis über die geschichtliche Wirklichkeit abgeben.

Er beschreibt, das Gehirn ist das Ergebnis eines evolutionären Prozesses, der Strukturen hervorgebracht hat, die sich im jeweiligen Biotop behaupten konnten. Dabei wählte unser Sinnessystem aus einem breitem Spektrum Signale aus der Umwelt aus, die besonders zum Überleben in einer komplexen Umwelt dienlich sind. Zum Überleben ist die Auswahl wichtig, um aus dem Strom der Sinneswahrnehmungen die Aufmerksamkeit auf das Wichtigste zu lenken z.B. einen erwarteten Feind schnell und sicher zu erkennen.

In der durch den evulotionären Prozeß geprägten Hirnstruktur hat die Wahrnehmung holistischen Charakter. Die zeitliche Abfolge liegt als gebündelter Gesamteindruck vor, dessen verschiedene Komponenten, einem komplexen Geflecht von Fakten, Beziehungen und Bewertungen, aufs innigste assoziativ miteinander verknüpft sind. Die Wahrnehmungen werden in Engrammen im Gehirn gespeichert, das somatische Substrat des Gedächtnisses. In unserem Gehirn kommen fortwährend weit mehr Sinneseindrücke an, als uns bewußt ist. Viele dieser Signale werden bearbeitet, wobei uns das Ergebnis nicht ins Bewußtsein gelangt. Diese Ergebnisse erfolgen nach sich herausgebildeten Kriterien etwa nach denen der Logik, sind folglich eine Konstruktion. Weiterhin wird nicht wahrgenommen, wofür wir keine Sensoren haben. Die Lücken ergänzen wir durch Konstruktionen.

So kann es kommen, wenn Menschen nach Motiven für bestimmte Handlungen befragt werden, als Folge der Bearbeitungsprozesse frisch erfundene bzw. konstruierte Motive anbieten, die sie selbst für zutreffend halten, aber wofür andere Motive entscheidender wären. Für die Begründung seiner Motive lügt dieser Mensch nicht vorsätzlich, sondern er kann keine lückenlose Kontrolle über seine Gründe haben. Zweitens haben Menschen das unwiderstehliche Bedürfnis, für das, was sie tun, Ursachen und Begründungen zu finden.

Infolge des begrenzten Zugangs zum Bewußtsein besteht ein selektive Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit. Welche Signale in der Lage sind, in dieser Selektion zum Bewußtsein zu gelangen, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Zum einen ziehen besonders auffällige Reize oder Ereignisse die Aufmerksamkeit auf sich. Sie erzeugen besonders starke neuronale Antworten, die die Aufmerksamkeit steuern. Es besteht auch die Option, die Aufmerksamkeit absichtlich zu steuern, wobei gleichzeitig unbewußte Faktoren mit wirken. Weiterhin steuern die Aufmerksamkeit die engrammierten Erfahrungen, die als Erwartungen erwartete Inhalte schneller verarbeiten und bevorzugt über die Sinneskanäle ins Bewußtsein gelangen. Diese Steuerung unterliegt auch unbewußten Einflüssen, so daß unbewußte Reize und Erinnerungen unbewußte Erwartungen auslösen und die Aufmerksamkeit auf bestimmte Sinnessignale richten. Somit nehmen wir oft nur wahr, was wir ohnehin erwarten. Oft vereiteln auffällige, aber vielleicht unbedeutende Reize die Wahrnehmung der leisen, aber vielleicht viel wichtigeren Vorgänge.

Welche fatalen Auswirkungen diese biologischen Mechanismen auf die Zuverlässigkeit der Berichte von Augenzeugen (etwa bei gerichtlichen Auseinandersetzungen, Erinnerungen im Streitfall) und Zeitzeugen in den menschenvermittelten historischen Quellen haben, bedürfen nach Singer keiner Kommentierung. Diese Mechanismen sind zum Überleben wichtig, für eine objektive Geschichtsschreibung nur beschränkt verwertbar. Wahrnehmung und Geschichtsschreibung stellt sich als hochaktiver, hypothesengesteuerter Interpretationsprozeß dar, der aus einem Wirrwarr der Sinnessignale nach bestimmten Gesetzen ordnet und die Objekte der Wahrnehmung definiert.

Der Wahrnehmungsapparat trachtet also immer danach, stimmige, in sich geschlossene, in allen Aspekten kohärente Interpretationen und für alles Sein Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen und zu liefern. Dies geschieht auch auf der Ebene der Bedeutungszuweisungen oder Zuschreibung von Kausalbezügen. Aus gleichen Abläufen können völlig verschiedene Schlußfolgerungen gezogen werden, und es können Ereignissen Bedeutungen zugeschrieben werden, die sie in Wirklichkeit nicht hatten oder besser gesagt nicht gehabt hätten. Ein triviales Beispiel ist unsere fast zwanghafte Tendenz, die zeitliche Kontingenz von Ereignissen als Ausdruck einer Kausalbeziehung wahrzunehmen.

Die Konstruktion solcher Beziehungen kann wahrscheinlich sein unter einigermaßen konstanten Bedingungen. Fatal wird dieses Extrapolieren, Bedeutungszuweisen und Kausalbeziehungenkonstruieren bei der Anwendung dieses Verfahren von Prozessen, die anderen Gesetzen folgen als jenen, die der Beobachter und Interpret voraussetzt. In diesem Fall führen frühere Wahrnehmungen und Bedeutungszusammenhänge durch diese Voraussetzungen zu Verzerrungen und falschen Wahrnehmungen der neuen und aktuellen Realität.

Noch komplexer als die Konstruktion der Wahrnehmung ist die Erinnerung, also die Wahrnehmung der Vergangenheit, da weitere in der zeitlichen Abfolge erfolgte Wahrnehmungen und deren Konstruktionen in die Erinnerung einfließen, diese beeinflussen und weiter verfälschen. Beim Erinnern ist nur schwer zu trennen, welche Bezüge bereits im Zuge des Wahrnehmungsaktes abgespeichert wurden und welche erst beim Auslesen und Rekonstruieren definiert oder gar hinzu genommen wurden.

Das Abspeichern erfolgt nur langsam und Engramme bedürfen der Konsolidierung. Falls dieser Konsolidierungsprozeß gestört wird, können Gedächtnisspuren ausgelöscht werden, im Tierexperiment durch Unterbrechung der Eiweißsynthese. Da nie mit Sicherheit Störungen der Konsolidierung und Speicherung erfaßt werden können, ergibt sich, daß Gedächtnis und Erinnerung tatsächlich auf Rekonstruktionen von Beziehungen zwischen bruchstückhaften und voneinander getrennten Gedächtnisspuren beruht, und kaum die tatsächliche vergangene Wirklichkeit wiedergeben kann.

Im Kontext von Wahrnehmung und Erinnerung ist nur schwer zwischen Autorenschaft, Authenzität und Fremdzitierung, etwa einem Plagiat zu unterscheiden. In der Umwelt läuft dermaßen viel und mannigfaltig ab, wird zitiert und beschrieben, daß nur eine Auswahl stattfinden kann, und diese Auswahl findet nach eigenen Kriterien statt, die wiederum eine eigene Konstruktion darstellen, insofern partiell authentisch sind.

In einem 1. Entwurf dieser Darstellung habe ich mich allein auf Singer bezogen. Hier sein kompletter Vortrag, den ich erst jetzt auf seiner Homepage fand: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Ein anderer Vortrag über Entscheidungsgrundlagen und noch eine anderer Artikel, den ich herunterladen konnte, über Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung 2 konfliktträchtige Erkenntnisquellen.

Inzwischen sind mir andere Artikel über neurobiologische Sichtweisen in die Hände gefallen, von denen ich Auszüge einflechten möchte.

Im bvvp -Magazin, Ausgabe 3 /2003, schrieb Ursula Stahlbusch unter dem Titel Die aktuelle Hirnforschung verändert das bild - ich meine zwar, sie verändert nicht, sondern sie bestätigt das/mein bild -, daß die erstaunliche Ergebnisse der Hirnforschung der letzten Jahre eine neue Sicht des Menschseins bedingen. Sie könnten zu einer grundlegend neuen Orientierung der medizinischen Versorgung führen: Medizin nicht als kompetenter Reparaturwerkstatt, sondern als Fürsorge für Menschen in einer menschengerechten Umwelt. Dieses neue Wissen wird das Verständnis und die Therapien psychischer, aber auch "rein somatischer" Krankheiten ganz wesentlich verändern.

Sie führte weiterhin aus:

- erfahrungsabhängige Plastizität des Gehirns Das hochkomplexe Nervenzellennetzwerke des menschlichen Gehirns mit seinen Milliarden Nervenzellen und noch vielmehr Dendriten und Synapsen bleibt lebenslang modulationsfähig. Es kann nachweislich Substanz verlieren und auch neue Substanz aufbauen. Die Feinstruktur dieses Netzwerks befindet sich, abhängig von unserem Denken, unseren Gefühlen, unserem Erleben und unseren Erfahrungen in einer sich wandelnden Umwelt lebenslang in ständiger Veränderung. In einem komplexen Zusammenwirken von Gen- Aktivierung, Streß -Achse, Botenstoffen u. a. findet insbesondere das, was im zwischenmenschlichen Beziehungen, den sozialen Interaktionen geschieht, in Verbindung mit Informationen über die aktuelle körperliche Befindlichkeit seinen unmittelbaren Niederschlag in konkreten biologischen Veränderungen in Nervenzellen der des Gehirns.

- Gene werden gesteuert Die Gesamtheit unserer Gene, das Genom, enthält lediglich den Bauplan, die Grundausstattung, den Text möglicher Ausformung unsererseits. Professor Bauer vergleicht diese Textvorlage mit einem Konzertflügel und fragt: wer spielt auf diesem Flügel? Die Regula zur der einzelnen Gene wird größten Teils nicht vertagt. Sie geschieht vielmehr in einem ständigen komplexen Zusammenwirken verschiedener Regulationssysteme, abhängig von unseren individuellen Erfahrungen im Innen und Außen, deren jeweils aktuelle Summe als spezifische Reaktionsmuster im Nervenzellnetzwerk unseres Gehirns niedergelegt ist. Diese Muster bestimmen unser sein und unser weiteres Handeln

.- Bedeutung von Beziehung und sozialen Kontext Machen wir neue Erfahrungen, so werden diese blitzschnell in einen zusammenwirken von Großhirn und limbischen System mit dem gespeicherten, aus subjektiven Mustern aller bisherigen Erfahrungen entstanden "Maßstab" abgeglichen und bewertet - Ergibt diese Bewertung eine Bedrohung, so wird wiederum über ein komplexes System aus Nervenbotenstoffen, Aktivierung der Hormon/Streß-Achse eine Alarmreaktionen ausgelöst, die vielfältige somatische Reaktionen zur Folge hat. Im schlimmsten Fall keiner eine starke aversive Reaktionen über den Mandelkern eine erhöhte Glutamatproduktion auslösen, die im Zusammenwirken mit weiteren Reaktionen zum konkreten Verlust synaptischer Schaltungen und Nervenzellen führen kann . - Ergibt der Abgleich dagegen eine für das Individuum positive Situation, so wird durchproduzieren von Nervenwachstumsfaktor eine Stabilisierung des betreffenden Nervenzellennetzwerkes angestoßen und damit der Weg für weitere ähnliche Erfahrungen gebahnt.

- Persönlichkeitsstörungen in neuem Licht insbesondere früher defizitäre Bindungserfahrungen, Mißbrauch, Gewalt und Vernachlässigung verhindern eine adäquate Ausformung der Nervenzellennetzwerke des Gehirns. Damit wird für die Zukunft befriedigende Bewältigung von Streß zumindest erschwert. Regulationssysteme sind dann falsch justiert, evtl. ist bereits Nervensubstanz verloren gegangen, Muster für erfolgreiche Coping- (Bewältigungs-)Strategien werden nicht ausgebildet. Dadurch besteht eine ständige Bereitschaft zu sehr geehrter aktiver über Erreichbarkeit, zu Dissertation als Basis für weitere Schädigung. Ohne Therapie bleibt das Zusammenspiel der Regeneration Systeme lebenslang gestört. Mögliche medikamentöse Eingriffe müssen Stückwerk bleiben, weil sie die zu Grunde liegende Störung nicht beseitigen können.

- gesellschaftspolitische Folgen Solche Schäden können unter adäquaten Umweltbedingungen vielfach gerade noch kompensiert werden. Bei den im heutigen Arbeitsleben gegebenen zusätzlichen sozialen Belastungen kommt es dagegen bei sehr vielen Menschen mit früher Schädigung zu konkreten schweren, auch somatischen Erkrankungen. Studien belegen zum Beispiel massive Wechselwirkungen zwischen psychischen Belastungen und koronarer Herzerkrankung und auch malignen Erkrankungen. Was Psychotherapeuten aus Erfahrung wissen, zeigen jetzt bildgebende Verfahren, nämlich konkret nachweisbar Interaktionen zwischen den jeweiligen Nervenzellnetzwerken mit bleibenden strukturellen Veränderungen. Auch die transgenerationelle Weitergabe pathologischer Streßmuster kann heute mit diesen Verfahren von rein genetisch vererbten Krankheiten unterschieden werden. Man spricht vom "Download" solcher defizitärer Muster im Rahmen gestörter Interaktionen zwischen Mutter und Kind. In der Folge gehen dann schon beim kleinen Kinde nach dem Prinzip "gebrauch' es oder verlier' es" ursprünglich vorhandene, aber jetzt durch falsche Weichenstellung nicht mehr gebrauchte für ein gesundes Funktionieren jedoch wichtige Nervenzellverschaltungen verloren.

Professor Bauer beschreibt in seinem Buch " das Gedächtnis des Körpers " den aktuellen Stand der neurobiologischen Forschung und nimmt in diesem Heft ebenfalls Stellung. Er fragt - gestörter Hirnstoffwechsel - Ursache oder Folge?

Welche Bedeutung hat die Biologie bei psychischen Störungen beziehungsweise Erkrankungen? Bedeuten biologische Veränderungen, die sich bei psychischen Erkrankungen beobachten lassen, daß die jeweilige seelische Störung eine primär biologische oder in den Genen liegende Ursache hat. Entziehen solche Befunde der Psychotherapie den Boden? Biologischer Befunde z. B. bei der Depression, bei Zwangserkrankungen oder bei Borderline- Störungen haben in den letzten Jahren bei Vertretern einer biologistisch und genetisch -deterministisch orientierten Medizin und insbesondere bei maßgeblichen Vertretern der deutschen Psychiatrie zu bizarren Schlußfolgerung geführt. Tatsächlicher stellt der derzeit vorherrschende biologisch -genetische Determinismus die modernen neurologischen Erkenntnisse völlig auf den Kopf.

Die Beziehungen zwischen Körperbiologie und Psyche sind alles andere als einer von den Genen oder dem Körpergeschehen ausgehende Einbahnstrasse. Tatsächlich wurde bis in molekulare Details hinein gezeigt, daß Erlebnisse und zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen die Strukturen des Gehirns verändern, die Aktivität von Genen induzieren bzw. reprimieren und Netzwerke synaptisch verschalteter Nervenzellgruppen modellieren, bis hin zu makroskopisch sichtbaren Veränderung der Gehirnmorphologie. Zwischenmenschliche positive Bindungen haben nachhaltige positive Auswirkungen auf neurobiologische und weitere körperliche Parameter. Umgekehrt wurde empirisch nachgewiesen, daß Bedrohung, Angst und Streß (insbesondere solcher im Zusammenhang mit dem Verlust bedeutsamer Bindungen) Neurotransmitter freisetzen und Gene aktivieren, deren Produkte den Stoffwechsel nachhaltig verändern und negative Effekte auf biologische Strukturen von Gehirn und Körper nach sich ziehen können. Bei Personen, die schwere Traumatisierungen erlitten und keine frühzeitigen psychotherapeutische Hilfestellungen erhalten haben, können diese Effekte bis in die Veränderung makroanatomischer Strukturen hineinreichen. Damit ist unabweisbar, daß alle markanten psychischen Prozessen von biologischen Veränderungen begleitet sind. Eric Kandel, Nobelpreisträger der Medizin des Jahres 2000, läßt am Beginn seiner Vorträge gelegentlich den Ausspruch fallen "nach meinem Vortrag wird Ihr Gehirn nicht mehr so sein wie vorher ". Beziehungserfahrungen können nicht nur pathogen, sie können auch heilend sein. Einer der entscheidenden Aspekte der Wirksamkeit von Psychotherapie sind die in ihr stattfinden korrigierenden Beziehungen. Daher sollte es nicht überraschen, daß nachgewiesen wurde, daß auch Psychotherapie faßbare biologischer Auswirkungen auf das Gehirn hat, und zwar im Sinne einer Rückbildung von Auffälligkeiten, die sich als Korrelat der psychischen Störungen zuvor gezeigt hatten.

Ist der Mensch der Sklave seines Gehirns und besitzt er folglich keinen freien Willen? Über diese Frage streiten Natur- und Geisteswissenschaften. Mit ihrem Manifest offenbaren elf führende Hirnforscher ihre Grenzen, schauen in die Zukunft und werben für einen Dialog mit ihren Kollegen aus Philosophie und Psychologie, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau am 21.10.2004 mit der Überschrift " Auf dem Stand von Jägern und Sammler ". Angesichts des enormen Aufschwungs der Hirnforschung in den vergangenen Jahren entstehe manchmal der Eindruck, ihre Wissenschaft stünde kurz davor, dem Gehirn seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Doch gelte hier zu unterscheiden: grundsätzlich setzt die biologische Untersuchung des Hirns auf drei verschiedenen Ebenen an. Die oberste erklärt die Funktion größerer Hirnareale, die mittlere Ebene beschreibt das Geschehen innerhalb von Verbänden und von hunderten und tausenden Zellen und die untere Ebene umfasse die Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle. Bedeutende Fortschritte habe die Hirnforschung bislang nur auf der obersten und auf der untersten Ebene erzielen können, nicht aber auf der mittleren. Zwischen dem Wissen über die obere und untere Organisationsebene des Gehirns klaffe aber nach wie vor eine große Erkenntnislücke. Mit welchen Codes einzelne Nervenzellen untereinander kommunizieren, existieren allenfalls plausible Vermutungen. Völlig unbekannt sei zudem, was ablaufe, wenn 100 Millionen oder gar Milliarden Nervenzellen miteinander "reden". Nach welchen Regeln das Gehirn arbeite, wie es die Welt abbilde, so das unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen , wie das innere Tun als "seine" Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plane. All dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Und es ist völlig unklar, wie man das mit den heutigen Mitteln erforschen könne. Dort sei man auf dem Stand von Jägern und Sammlern.

Doch auch wenn viele Geheimnisse noch darauf warten gelüftet werden, hat die Hirnforschung bereits heute einige ganz erstaunliche Erkenntnisse gewonnen. Beispielsweise weiß man im wesentlichen, was das Gehirn gut leisten und wann es an seine Grenzen stößt. Mit am eindrucksvollsten ist seine enorme Adaptions - und Lernfähigkeit, die zwar mit dem Alter abnimmt, aber nicht so stark wie vermutet. Für bestimmte Aufgaben können zusätzliche Hirnregionen rekrutiert werden, etwa beim Erlernen von Fremdsprachen im fortgeschrittenen Alter. Dank dieser Plastizität kann Hans also durchaus noch lernen, was Hänschen nicht gelernt hat. Geist und Bewußtsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet.

Persönliche Schlußfolgerungen

Bisher habe ich mich teils verkürzt, teils abgewandelt nach meinen Auffassungen und meiner Auswahl auf Singer bezogen. Ich möchte betonen, daß ich mich auf eine Darstellung von Singer beziehe. Die Neurobiologie ist eine wesentlich ältere Wissenschaft als die Tiefenpsychologie oder die Psychoanalyse und hat nach meinem Erkenntnisstand verschiedene wissenschaftliche Ausrichtungen erfahren. Besonders fasziniert hat mich dieser Artikel, da ich in ihm meine eigenen Auffassungen von Psychologie, mein Menschenbild wieder gespiegelt sehe.

Im Folgenden möchte ich eigene Schlußfolgerungen beschreiben, die sich für mich aus dem Text ergeben, eigenen Erfahrungen und meinen subjektiven Auffassungen der Psychologie und Tiefenpsychologie entsprechen. Ich möchte versuchen, die naturwissenschaftliche Hirnforschung auf den menschlichen Alltag zu übersetzen. Aus einem komplexen Geschehen kann ich naturgemäß nur einige mir wesentliche Aspekte nach meiner selektiven Wahrnehmung herausgreifen.

Im evolutionären Werdegang des Menschen haben sich Hirnstrukturen herausgebildet, die vordringlich dem Überlebensprozeß dienen Die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Vorgeschichte werden in den Gehirnsstrukturen eingeprägt und stellen die Matrix für spätere Wahrnehmungen in der Gegenwart und Zukunft dar. In dieser Matrix verschmelzen aktuelle Wahrnehmung und Vergangenheitserfahrung zu einem gemeinsamen Ganzen, also dem holistischem Charakter der Wahrnehmung. Durch den evolutionären Prozeß ist das menschliche Gehirn also zuerst auf Bedrohungen ausgerichtet. Bedrohungserfahrungen werden vorzugsweise wahrgenommen, werden in der Zukunft erwartet und Überlebensstrategien haben Priorität. Das menschliche Gehirn ist auf eine Überlebensstrategie vorbereitet, möglichst schnell Bedrohungen auszuschalten. Den größten Geschwindigkeitsvorteil bieten die Mechanismen und Automatismen, sozusagen auf Gefahren automatisch zu reagieren, je intensiver diese, desto schnellere Reaktionszeiten sind notwendig und sinnvoll. Da diese aus früheren Zeiten stammen, kann es durchaus sein, daß sie nicht mehr der gegenwärtigen Situation entsprechen. Ein Mensch mag auf eine harmlose Situation reagieren, als ob er massiv bedroht wäre. Der ursprüngliche Vorteile kann zum Nachteil werden. So mag ein Mensch, der auf Grund ursprünglicher Erfahrungen in seiner Kindheit seine Würde und Integrität bedroht sieht, automatisch angepaßt, brav, unterwürfig oder gegenteilig trotzig reagieren, auch wenn dies nicht der jetzigen Situation im Erwachsenenalter entspricht. In der Gegenwart wird versucht die Vergangenheit in der Zukunft auszuschalten.

Weniger bedrohliche Erfahrungen und Sinneseindrücke werden in den Überlebensstrategien nicht oder weniger wahrgenommen, sind also sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart und Zukunft ausgeschaltet.

Demzufolge besteht eine selektive Wahrnehmung, die durch die Bewertungen und Bedeutungen, Zuschreibungen und Konstruktionen nach inneren Gesetzen, etwas denen der Logik (nach dem griechischen Wort "logos", dem inneren Wort, der inneren Aussage und dem inneren Gesetz) erfolgt. Die Logik, die in inneren Aussagen gefaßten Erfahrungen, erscheint mir als das zentrale Gesetz. Die Menschheit als Gesamtes hat eine innere Logik, Gesellschaften und Kulturen haben ihre eigene Logik nach ihren Erfahrungen, kleinere Zusammenhänge wie Dörfer und Familien wiederum ihre eigene Logik. Es bestehen also Unterschiede in der Logik und verschiedene Logiken. Je nach der jeweiligen Logik bestehen verschiedene Erwartungen und Bedrohungsverhinderungsstrategien.

Durch den holistischen Charakter der Wahrnehmung geht die zeitliche Abfolge verloren. Früher nacheinander eintretende Ereignisse werden als gebündelter Gesamteindruck wahrgenommen. Ebenso gehen weniger bedrohliche Vorerfahrungen verloren, dies um so mehr, je intensiver die Vorbedrohungen sind. Ein Mensch mit bedrohlichen Prägungen wird überall Bedrohungen erleben und weniger bedrohliches und Unterschiede nicht wahrnehmen. Dies spielt meiner Ansicht nach bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen und Krankheiten eine tragende Rolle, früher nacheinander erfolgte diachrone Eindrücke in der Gegenwert und Zukunft als gleichzeitig synchron wahrzunehmen, etwa beim Berggefühl des Depressiven. Das zwanghafte Kausalitätsbedürfnis des Menschen erkläre ich mir aus dem Versuch, Verständnis, Akzeptanz und Übersicht zu bewahren, die Bedrohungen zu integrieren und so für die Zukunft zu bewältigen.

Wie oben erwähnt werden im Bedrohungskontext schwächere Reize, weniger bedrohliche Erfahrungen und Nebenwahrnehmungen nicht mehr wahrgenommen. Im Überlebensprozeß erhält die Wahrnehmung des Sichtbaren und Äußeren Priorität. Unsichtbares an Sachverhalten, Menschen und Inhalten und eigener im Inneren nicht wahrgenommener Prozesse, dem Unbewußten, werden nicht anerkannt und gehen verloren. Deshalb geht es in einer Psychotherapie vor allem darum, die Erinnerung an diese wachzurufen, die Wahrnehmung dieser im gegenwärtigen und zukünftigen Umfeld zu schärfen und Nichtsichtbares und Unbewußtes anzuerkennen - einem in den Bedrohungsinhalten aufgewachsenen Menschen oft schwer zugänglich.

Im Folgenden möchte ich einige mir grundsätzlich erscheinende Zusammenhänge und Sachverhalte darstellen, bevor ich mich dem individuellen menschlichen Werdegang, dem Konfliktgeschehen und Krankheitszusammenhängen zuwende. Ich beschreibe diese, weil sie für viele in Bedrohungszusammenhängen lebende Menschen gar nicht selbstverständlich sind und zu Konflikten und Krankheiten führen.

Subjektivität der Wahrheit

Allein das Wort Wahrheit gaukelt vor, als ob es eine allgemeine und allgemeingültige Wahrheit gäbe. Das Wort Wahrnehmung, das Nehmen der Wahrheit, zeigt schon durch das Wort den aktiven, subjektiven und konstruktiven Charakter der Wahrheit auf. Durch die mögliche Vielzahl von wahrgenommenen Erfahrungen, deren Konstruktion und deren Beeinflussung der wahrgenommenen Gegenwart eines Individuums bzw. Subjektes muß die Wahrnehmung immer subjektiv sein. Für den Menschen gibt es aus meiner Sicht keine objektive Wahrheit. 2 Menschen können also nicht absolut identisch wahrnehmen. Sie müßten ihren individuellen Hintergrund aufgeben. Selbst die Naturwissenschaften, die Erfassung der Natur mit Hilfe des menschlichen Geistes und dessen Instrumentariums, setzt die individueller Erfassung voraus und kann trotz aller Objektivierungsversuche letztlich nicht objektiv sein. Insofern könnte man die Naturwissenschaft unter die Geisteswissenschaften, genauso gut umgekehrt die Geisteswissenschaft infolge der engrammierten neuronalen Matrix unter die Naturwissenschaft subsummieren. Zumindest ist eine Trennung von Körper und Geist, wie es vielfach in der Medizin, in Geistes- und Naturwissenschaften geschieht, nicht möglich, da der Geist auf ein körperliches Substrat angewiesen ist und dieses wiederum den Geist beeinflußt - also eine Wechselbeziehung von Geist und Körper.

Beobachterabhängigkeit

Aus der Subjektivität der Wahrnehmung folgt, daß die Wahrnehmung von der Position des Beobachters und der Position des beobachteten Gegenstandes, Menschen oder Inhaltes abhängig ist, die den Blickwinkel bzw. die Perspektive beeinflussen. Weiterhin geht die Beleuchtung ein, zu der ich in der menschlichen Perspektive die Konstruktion der Gegenwart im Lichte der Vergangenheit zähle. Auf die Gegenwart fällt also immer der Schatten der Vergangenheit. Im Volksmund heißt es zwar "man kann nicht über seinen eigenen Schatten springen", aber durch Veränderung des Standpunktes, der Lichtquelle und deren Intensität sieht der Schatten ganz anders aus, sodaß ein bedrohlicher Schatten völlig anders sich auswirken kann. Weiterhin fließen in die Wahrnehmung die Bewertungen und Bedeutungen, die Interessen und der gegenwärtige Zeitpunkt ein. Der Zeitpunkt erscheint mir wichtig, weil von dem einen bis zum nächsten Zeitpunkt einer der Parameter wie der Standpunkt, die Perspektive und wechselnde Beleuchtungen sich verändert haben können. Die Wahrheit ist also beobachterabhängig. Zur Interessenswahrnehmung gehören die erwarteten zukünftigen Gewinne, etwa materieller Gewinn oder Konfliktabwehr. Die gegenwärtige Wahrnehmung wird also vom Zukunftsentwurf mitgeprägt. In der zeitlichen Abfolge können sich durch Bewegungsabläufe die Positionen, die Zuschreibungen, durch die Veränderungen die Interessen und somit die subjektive Wahrheit und Wahrnehmung verändert haben. Wie der Blick durch eine äußere Landschaft schweifen kann und diese je nach Focussierung ausschnittsweise wahrnimmt, so schweift der Blick durch eine innere Landschaft, der ein ungeheurer Erfahrungsschatz zugrunde liegt, in der neuronalen Matrix biologisch verankert, und es treten je nach Focussierung verschiedene Facetten bzw. Ausschnitte ins innere Auge, die mit den äußeren Ausschnitten korrespondieren, mit ihnen verschmelzen, diese beeinflussen und beschatten, etwa die Bewertung eines Menschen, Bedeutung eines Sachverhaltes und einer Zukunftsperspektive. Menschen mit existentiell bedrohlichen Vorerfahrungen sind jedoch ausschließlich auf diese fixiert, und diese tauchen in den verschiedensten Gewändern immer wieder auf.

Für viele Menschen ist diese komplexe Beeinflussung der Wahrheit unerträglich. Sie gehen von der einen, einzigen und ewigen Wahrheit aus, besonders häufig bei Religionen. Alles andere stürzt sie in Verwirrung, Chaos, ihnen wird schwindelig, sie geraten in Zerrissenheit und bei mangelnder Klärung und Hilflosigkeit in Verzweiflung als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Zur Abwehr der Verwirrung folgen sie demjenigen, der ihnen den einzigen Weg und die Wahrheit zeigt und verspricht, im christlichen Mythos Jesus Christus " ich bin der Weg und die Wahrheit " oder einem seiner Nachfolger. In der biblischen Geschichte wurde Jesus gekreuzigt. Diese Kreuzigung könnte man als Hinweis sehen, wie viel Wut und Hass die Verkündung der absoluten Wahrheit und das Verbot der subjektiven Wahrheit, Sichtweisen und individuellen Lebenswege erzeugt. Die Religion dient also der Abwehr von existentieller Bedrohung, Angst, Verwirrung und innerem Chaos.

Katastrophisieren

Frühere bedrohliche Erfahrungen stellen die Matrix für das gegenwärtige und zukünftige Erleben dar. Sie werden also entsprechend der menschlichen biologischen Gehirnstruktur geradezu erwartet und oft genug gesehen. Dieses Hereinsehen früherer bedrohlicher bis katastrophaler Erfahrungen in die Gegenwart und Zukunft, die aber nicht dieser jeweiligen Situation entsprechen, nenne ich gerne Katastrophisieren oder Dramatisieren. Der Volksmund sagt, aus der Mücke einen Elefanten machen. In für andere harmlosen Situationen können Katastrophen erlebt werden, etwa eine Schwäche zu haben oder einen Fehler zu machen. Ein derartig erlebender Mensch sieht z. B. etwas als besonders schlimm, was andere als normal oder unauffällig ansehen. Die umgekehrte und eine Abwehrform der Katastrophisierung kann sein, vermeintliche Katastrophen zu bagatellisieren, zu Lappalien zu erklären. Oft stehen Katastrophisieren und Bagatellisieren nebeneinander, etwa wenn in der chemischen oder Kernindustrie von den einen die Gefahren hochgepuscht und von den anderen verharmlost werden, so daß kein Mensch weiß, woran er wirklich dran ist. Die Katastrophisierung ist also eine zwangsläufige Folge von katastrophalen Erfahrungen und die Gründe und Hintergründe müssen in diesen gesucht werden..

Streitfolge

Wie oben erwähnt werden in und nach Bedrohungserfahrungen andere Inhalte und Gesichtspunkte nicht wahrgenommen. Wird die Tatsache der Subjektivität bzw. der Beobachterabhängigkeit in allen Dimensionen der Standpunkte, Belichtungen, Interessen und Zeitpunkte nicht wahrgenommen, kann es leicht zu Streit kommen, was denn nun tatsächlich wahr sei. Es gilt nicht „es ist für mich so!“, sondern „es ist so!“. Jeder kennt den Streit in Familien, politischen und religiösen Gruppen bis in die Natur- und Geisteswissenschaften. In der Subjektivität wird oft unerbittlich um die objektive Wahrheit gestritten, ein Streit ohne Ende um Sieg und Niederlage. Der Sieg beinhaltet die Vereinnahmung des anderen, nicht nur daß jeder für sich recht hat, sondern daß der Eine für den Anderen mit recht hat, dieser alsounrecht hat, dessen Subjektivität verschwindet und dieser sich folglich zur Aufrechterhaltung und Anerkennung der eigenen Position und Person wehren muß. Bei der Anerkennung der Subjektivität der Wahrnehmung wäre eine Streit nicht notwendig. Eher wäre es interessant, die Position und Wahrnehmung des anderen und dessen Hintergründe kennen zu lernen, da dies eine Bereicherung der eigenen Wahrnehmung darstellen kann. Streit um die Objektivität führt also zu einer geistigen inneren Verarmung.

Druck und Gegendruck

Es erscheint mir ein inner- und zwischenmenschliches Gesetz zu sein, daß ähnlich wie in der Physik Druck Gegendruck erzeugt. Im bedrohlichen Ängsten entsteht Druck, gegen den sich alles wehren und sträuben muß, also ein Gegendruck entsteht. Setzt ein Mensch einen anderen unter Druck, muß sich dieser dagegen wehren und erzeugt einen Gegendruck. Innerhalb einer Person erzeugt der Angstdruck meiner Ansicht nach ebenfalls Gegendruck. Sind beide Druckformen sowohl im inneren als auch zwischenmenschlich gleichstark, kann eine innere und zwischenmenschliche Pattsituation oder Lähmung resultieren. Wenn der Gegendruck auf der offenen, sichtbaren Ebene nicht erfolgt, so wird er mit Sicherheit auf einer unteren, tieferen oder subtileren Ebene erfolgen. Dieser Gegendruck kann sich als Trotz, Verweigerung, Sabotage, Boykott oder Rebellion abspielen. Druck und Gegendruck spielen in der offenen Form in zwischenmenschlichen Konflikten eine große Rolle, in subtiler Form in Persönlichkeitsstörungen und im Krankheitsgeschehen.

Bewußte und unbewußte Anteile im Geist

Psychologie, aus dem Griechischen die Aussagen im Geist, beinhaltet also immer neben den Aussagen über die bewußte Wirklichkeit unbewußte Anteile, die Aussagen in der Tiefe des Geistes, die Tiefenpsychologie, wobei diese Anteile, wie neurobiologisch nach Singer festgestellt, wesentlich bestimmender sein können. Ähnliches haben auch Freud, seine Nachfolger und die Psychoanalyse gesagt. Der Volksmund spricht vom Gefühl oder auch vom Bauch, der mehr als der Verstand oder die Vernunft die Welt regiert. Zu den unbewußten Anteilen besteht keine bewußte Wahrnehmung. Trotzdem sind sie da und wirken sich oft sogar sehr dominierend auf Geist und Körper aus. Meiner Ansicht nach laufen im Inneren des Menschen tag und nacht bilder wie ein innerer Film ab, die nächtlichen bilder manchmal in Träumen erinnerbar. Diese bilder stammen aus früheren Erfahrungen. Gleichzeitig lebt der Mensch in einer äußeren Realität und nimmt diese wie einen äußeren Film wahr. Infolge der Prägungen erfolgt die Wahrnehmung der äußeren Realität mit den Augen bzw. der Brille der inneren Realität. An dieser Schnittstelle erfolgt in meinen Augen die Realitätsprüfung. Diese ist vergleichbar mit dem Aufwachen aus einem Traum, obwohl natürlich in der Realitätsprüfung nach subjektiven Maßstäben wahrgenommen wird.

Zu den unbewußten Anteilen möchte ich rechnen, was ich gerne Selbstverständlichkeiten nenne. Es versteht sich von selbst, daß etwas so ist, und bedarf keiner weiteren Erklärung. Diese Selbstverständlichkeiten gehören nach Singer in den Bereich, der nicht wahrgenommen wird, aber sie beinhalten eine wesentlich stärkere Bedeutung und Tragkraft als die auffälligen Reize und beinhalten die antizipierten Erwartungen. Es fehlt der Bezug zu allen Dimensionen, allen Unterscheidungen bzw. Differenzierungen wie zur Subjektivität und Wahrnehmung der unterschiedlichen Voraussetzungen. Da alle Menschen unterschiedliche jeweils individuelle Erfahrungen trotz vieler Gemeinsamkeiten in einheitlichen Kulturen in sich engrammiert tragen, führen diese zu unterschiedlichen Erwartungen und Voraussetzungen an das Leben, diese als nicht hinterfragbar selbstverständlich angesehen werden, sind Mißverständnisse und Konflikte vorprogrammiert. Diese Selbstverständlichkeiten führen im Wahrnehmen und Handeln zu Automatismen und Mechanismen, deren unterschiedliche Bezüge nicht erkennbar und auf ihre Ursachen und Zusammenhänge nicht hinterfragbar sind. Diese Selbstverständlichkeiten sind insofern unbewußt, da sie meist erst im Konfliktfall auffallen können. Für sie besteht Blindheit. Bei den Selbstverständlichkeiten muß also zuerst einmal gesehen werden, was wahr zu nehmen ist.

Handeln nach der Wahrnehmung

Da der Mensch nach seiner Wahrnehmung bzw. nach dem handelt, was er glaubt, was ist, also nach seiner subjektiven Wirklichkeit, setzt er durch sein Handeln seinen Glauben in Realitäten um. Subjektiver Glaube und Überzeugungen können durch die Handlungsumsetzung zu Realität werden, die natürlich wiederum subjektiv gesehen wird. Da der Mensch nicht nur nach bewußten, sondern auch nach unbewußten Wahrnehmungen handelt, kann er sich keinen Aufschluß über seine Gründe geben bzw. ersetzt diese durch ihm logisch erscheinende Gründe, also Konstruktionen. Bei etwaigen falschen Wahrnehmungen, Voraussetzungen und Antizipationen, obwohl es falsch eigentlich im subjektiven Sinne nicht geben kann und subjektiv in der Wahrnehmung immer richtig ist, setzt er falsches in eine falsche, jedoch für ihn richtige und äußerlich reale Realität um. Somit hat er auch im Falschen das Richtige gefunden, also recht gehabt. Man spricht auch von „selffulfilling prophecy“. Man könnte auch von Selbstreferenz der Wahrnehmung und des Handelns sprechen. Darin sehe ich im Falle von bedrohlichen und unglücklichen Wahrnehmungen einen Teil der menschlichen Tragik. Der Mensch dreht sich mit seinen Wahrnehmungen und daraus erfolgenden Handlungen immer im Kreis, einem Teufelskreis oder Circulus vitiosus, wobei jede Wahrnehmung und Vorwegnahme im Ergebnis bestätigt werden kann. Falls die Vorhersagen nicht eintreten, tritt Überraschung, Erstaunen oder Verwunderung auf. In dem Wort Verwunderung steckt das Wort Wunder, was besagt, daß die neue Realität als Wunder angesehen wird. In der Überraschung und der Verwunderung steckt die Chance einer Realitätsneuorientierung in der Gegenwart. Manche Menschen leugnen diese neue Orientierung etwa mit dem Satz "das kann nicht sein ", wenn sie nicht in ihr festgefügtes und unabänderliches Weltbild hinein passen.

Zukunftsorientiertes Handeln

Wie in der neurobiologischen Sichtweise oben dargestellt, ist die Wahrnehmung und Erinnerung selektiv. Die Lücken werden durch bewußte und unbewußte Konstruktionen ersetzt, die bestimmten Gesetzen des Subjektes folgen, etwa denen der subjektiven Logik, die sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens zugelegt hat. Positive Erfahrungen schaffen Vertrauen und Zuversicht und negative Erfahrungen Mißtrauen und Angst. Vor allem im Bedrohungsfalle ist das Handeln zum Zwecke der Verhinderung sehr auf die Zukunft ausgerichtet. Ein nicht bedrohlich Erlebender kann einfach in den Tag hinein leben. Er tut, was er tut, und muß nichts fürchten. Natürlich tut er vor allem das, was in ihm Hoffnung erweckt, also auf positiven Erfahrungen beruht. Bei negativen Erfahrungen müssen diese unter allen Umständen in der Zukunft verhindert werden. Dies hat lebensnotwendige Priorität. Da diese Erfahrungen oft nicht bewußt wahrgenommen sind, verdrängt und verleugnet sind, sozusagen blinde Flecke bestehen, kann der Mensch sich häufig über die Gründe seines Handelns keinen Aufschluß geben bzw. ersetzt die Gründe durch ihm logische Konstruktionen, wie Singer oben angeführt hat.

Vergangenheit und Zukunft, die Antizipation der Zukunft aus der Vergangenheit

Die Niederschläge und Konstruktionen der Vergangenheit, Konstruktionen, weil auch schon in der Vergangenheit frühere vergangene Erfahrungen wahr genommen werden, sind in neurobiologischer Sicht die Grundlage derWahrnehmung der Gegenwart, Voraussetzungen und der Antizipation der Zukunft. Diese Konstruktionen rücken in die Nähe von Mythen, Geschichten und Erzählungen. Somit färben die Mythen der Vergangenheit den Mythos der Gegenwart, werden in ihr wieder erlebt und prägen den Mythos der Zukunft, den Zukunftsentwurf.

Der Zukunftsentwurf ist für das gegenwärtige Befinden oft entscheidend. Lebt der Mensch in einer guten Gegenwart, macht sich aber einen bedrohlichen Zukunftsentwurf, kann er kein Wohlbefinden erleben, während auch eine schlechte Gegenwart bei einem günstigen Zukunftsentwurf, nämlich daß es nur besser werden kann, für Wohlbefinden sorgt. Deswegen ist die Zukunft so wichtig. Dabei prägt die Vergangenheit den Zukunftsentwurf. Positiv erlebte Vorgänge in der Vergangenheit schaffen Hoffnung, schlechte Erfahrungen wenig positive Hoffnung und im Falle der angenommenen Unabänderlichkeit Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Da die Vergangenheit das Handeln prägt, macht der Mensch am zweckmäßigsten die Dinge, die Wohlbefinden Glück versprechen, und meidet Dinge, die Unglück versprechen. Ist der Mensch jedoch in seinem Unglück und unglücklichen Mechanismen verhaftet, schafft er diese auch zukünftig. Er sieht infolge der Vorbahnungen sein Unglück als seine Wirklichkeit und Vorbestimmung. Mohammedaner sprechen von Kismet, Watzlawik von der „Kunst des Unglücklichsein“.

Aus dem Handeln und dem Zukunftsentwurf lassen sich logischerweise Rückschlüsse auf die Vorerfahrungen, Engramme und Vorbahnungen ziehen. Aus den vielfältigen Möglichkeiten der Wahrnehmung des Lebens besteht eine bestimmte Auswahl bzw. eine Eingrenzung der Wahrnehmung, der Vorausschau und des Handelns. Andere Optionen werden nicht gesehen und nicht nach ihnen gehandelt.

Es ist zu vermuten bzw. anzunehmen, daß etwa ein Depressiver in seinem Zustand von Hilfs- und Hoffnungslosigkeit eine unglückliche Vergangenheit, wohl großteils in der Kindheit, erlebt hat. Schon damals hat er sich nicht zu helfen gewußt und keine Hilfe erfahren, dadurch nicht erlebt, eine Vorbahnung von Hilfe zu erfahren, Möglichkeiten der Hilfe und Selbsthilfe z.B. argumentativ für sich zu plädieren oder sich Hilfe holen zu können. Für ihn wird das Leben aussichtslos. Da er von seinem Umfeld geprägt wurde, bestehen in diesem ähnliche bilder und Vorerfahrungen, so daß sich Depressionen über Generationen entwickeln können und sozusagen psychologisch und biologisch vererbt werden.

Ähnlich, ein Mensch mit Angst- und Panikattakken wird in seiner Vergangenheit viele alltägliche angstauslösende Bedrohungen - einzelne werden wohl wegen der notwendigen Konsolidisierungsprozesse nicht ausreichen, es sei denn sie seien katastrophal - erlebt haben und diese in seinem Umfeld immer wieder erwarten und hineinsehen. Bei den weit verbreiteten Todesängsten führt etwa die Vergangenheitserfahrung infolge einer selbstabtötenden Verhinderungsstrategie, nicht lebendig das eigene Leben entfalten zu können und durch Verdrängungen und Verleugnungen das eigene Erleben nicht zu erfahren, also ein stückweit lebendig tot zu sein, in die Zukunft geworfen zu Todesängsten. Es wird also etwas in der Zukunft gefürchtet, was schon lange in der Person ist.

Böse Erfahrungen in der früheren Umwelt werden überall in oft neuen Gewändern gefürchtet etwa in der Sündenbockrolle, beim Gehänseltwerden, im Leistungskampf an der Schule, im Job oder Mobbing am Arbeitsplatz. Derjenige wird seine Entwertung, sein Versagen, seine Niederlage auch in Situationen erleben, die andere ganz anders ansehen oder nicht so gemeint haben, und nach seiner Wahrnehmung handeln. Sein Schicksal ist je nach Intensität und Umfassenheit der Prägungen unter Umständen ewig zu kämpfen. So kann es passieren, daß in der Wahrnehmung des Umfeldes das vermeintliche Mobbingopfer, sich ständig entwertet sehend, dagegen ankämpfend am meisten mobbt, alle gegen sich aufbringt und sich als Opfer bestätigt sieht. Im griechischen Mythos ist der ewige Kampf und die Vergeblichkeit in der Umsetzung der Ziele, wobei die vergangene Erfahrungen und Handlungsumsetzungen als Verurteilung durch die Götter symbolisiert wird, in der Sisyphussage symbolisiert. In der Verurteilung der Götter sehe ich symbolisch die Prägungen der Eltern, die für die Kinder sozusagen die Götter darstellten.

Ebenso lassen sich aus den Ergebnissen und Folgen des Handelns Rückschlüsse auf die ursprünglichen Absichten schließen. Irgendwo in seinen bewußten oder unbewußten Dimensionen hat der Mensch diese Folgen beabsichtigt, wie ich etwa später beim Krankheitsgewinn darzustellen versuche. Ein Mensch, der die innere Widersprüchlichkeit bzw. Ambivalenz nicht wahr nimmt, wobei viele Absichten in tieferen unbewußteren Ebenen stattfinden, wird diese Absichten nicht wahrnehmen, was andere wiederum als Leugnung ansehen. Bei den Krankheitsfolgen möchte ich auf diese ursprünglichen Absichten weiter eingehen. Bei einem Vater, der bei seinem Anspruch nach absolutem Gehorsam ständig Trotz erzeugt und auf dieser Schiene unentwegt und unverbesserlich weiterfährt, ist anzunehmen, daß er diesen Trotz irgendwo gewollt hat. Dieser Ablauf hat ja auch gute Seiten für ihn, nämlich dann ist er derjenige, der immer das Gute will, sich dafür einsetzt und nur der böse Sohn ständig trotzig dagegen hält. Er ist dann der Gute und der Sohn der Böse. Dadurch kann er vermeintlich böse Selbstanteile an den Sohn delegieren bzw. auf diesen projizieren.

Soziale Einflüsse der Wahrnehmung

Der Mensch ist ja kein Einzelwesen. Er lebt in Verbänden, in einem sozialen Kontext, ist auf Mit- und Zwischenmenschlichkeit angewiesen. Kleinere Gruppen sind die Familie, ein Freundes- oder Bekanntenkreis, größere etwa ein Dorf, ein Stamm, ein Volk oder eine Nation und im Rahmen der Globalisierung die ganze Erde. Die Mitglieder des Kontextes beeinflussen sich in ihren Wahrnehmungen gegenseitig. Trägt ein Mitglied seine subjektive Wahrheit in voller Überzeugung als objektive Wahrheit vor, besteht die Neigung, daß andere Mitglieder der Gruppe diese Überzeugungen als objektive Wahrheit voll übernehmen, es sei denn sie passen nicht in ihr Weltbild der Vorerfahrungen bzw. bestehen nicht ihre Realitätsprüfung. Subjektiver Glauben und Überzeugungen werden so zu Wissen eines ganzen Kontextes. Wenn ein Mensch glaubhaft und überzeugt eine Wahrheit oder einen Inhalt darstellt, geht es im zwischenmenschlichen Kontextes häufig um diese Wahrheit und nicht um die Wahrnehmung, daß dieser Mensch von dieser Wahrheit überzeugt ist. Dies Beispiel zeigt auf, wie sehr häufig die Differenzierungen zwischen Inhalt und Mensch nicht wahrgenommen wird.

Noch wichtiger als die horizontale Ebene erscheint mir die vertikale Ebene, die Übertragung von Erfahrungen und Glauben über Generationen hinweg. Die Überlieferung gemeinsamer Bewertungen und Bedeutungen nennt man Tradition und Kultur. Man könnte sich fragen, ob letztere als Kultur, da sie keine direkten persönlichen Sinneseindrücke darstellen, in den neuronalen Engrammen abgelegt und gespeichert werden. Da jedoch der Kultur ursprüngliche Erfahrungen aus früherer Vergangenheit früherer Generationen etwa von gut und schlecht, böse mit starken Sinneseindrücken und Gefühlen zugrunde liegen und sie in den Erwartungen und Antizipationen der Bewertungs- und Bedeutungszuschreibungen zu starken innere Realitäten mit Begleiterscheinungen von Gefühlen wie Angst, Scham und Wut führen, ist anzunehmen, daß diese ebenfalls neurobiologisch verankert sind. Insofern kann man zurecht und zugleich von einer biologischen und psychologischen Vererbung sprechen.

Zwischenmenschliche Beziehungen und Intersubjektivität haben also nach der Engrammierung ein neurobiologisches Substrat und stellen neben dem geistigen einen körperlichen Prozeß dar, den man mit entsprechenden Meßinstrumenten physikalisch und chemisch messen und mit chemischen und physikalischen Mitteln wie Medikamenten und Drogen auf das körperliche Substrat, vor allem auf die Überträgersubstanzen, die Botenstoffe und somit auf den geistigen und sozialen Prozeß einwirken kann. Da Medikamente und Drogen nicht auf das eingeprägte Substrat, sondern nur auf die Botenstoffe einwirken können, sind sie stark reversibel und lassen in ihrer Wirkung nach , und somit ist ein Depressiver oder ein Schizophrener oft lebenslang auf diese angewiesen, ein gefundenes Fressen für die Pharma-, Geräte- und Alkoholindustrie. Die Interessenslage dieser beiden Industrien wird also sein, nicht auf die ursprünglichen eingeprägten Geistesinhalte hinzuweisen, sondern auf die pathologischen Botenstoffe und diese Einwirkungsmöglichkeiten. Diese Industrien halten infolge ihrer Interessen naturgemäß nicht viel von Psychotherapie. Auf diese Weise werden ursprüngliche Sinneswahrnehmungen kollektiver Prozesse zu körperlichen Substraten, diese wiederum führen zu geistigen und sozialen Prozessen, die wiederum zu körperlichen Substraten führen, einer Spirale ohne Ende. Natürlich sind die zwischenmenschlichen Einflüsse nicht nur über eingeprägte Erfahrungen vermittelbar, sondern aktuell auf der horizontale Ebene über zwischenmenschliche Einflüsse in der Gegenwart vorhanden und übertragen sich in körperlichen und psychischen Prozessen.

Wahrnehmung der eigenen Person am und im anderen und des anderen im eigenen Selbst

Die ursprünglich von außen kommende Bedrohung wird wie erwähnt in das Umfeld hineingesehen und an anderen wieder erlebt, anderes ausgedrückt hinein projiziert oder an andere delegiert. So wird das ursprüngliche Geschehen wiederholt. Dadurch wird die eine Person in die andere verschoben oder verrückt, die dabei verrückt werden kann. Ich halte dies im existentiellen Bedrohungsfalle für ein unausweichliches Schicksal. Genauso wird umgekehrt der andere im eigenen Selbst wieder erlebt. Etwa, wenn der andere durch meine Aussage verletzt oder gekränkt ist, wird die Ursache nicht im anderen, sondern in der eigenen Person gesehen, genauso, wie es der andere sieht. Es besteht eine Gemeinsamkeit der Wahrnehmung der Ursache, Aufhebung der zwischenmenschlichen Grenzen. Viele sehen es als ihre größte Angst an, andere zu verletzen, und sehen die Ursache in sich selbst und nicht im anderen. Dabei wird oft die eigene Verletzlichkeit in den anderen hinein gesehen, diesem müßte es genauso ergehen wie dem eigenen Selbst, und die Unterschiede der Wahrnehmung werden nicht wahrgenommen. Wenn der andere verletzt ist, liegt es nicht an mir, sondern an seinem eigenen vorbereiteten Boden, für den ich nichts kann. Naturgemäß liegen kindliche Vorerfahrungen zugrunde, daß die Eltern durch das Verhalten des Kindes häufig verletzt sind, und die Ursache im Kinde sehen. Ich versuche die Zusammenhänge Patienten dadurch zu erklären, wenn ich sie etwa Arschloch oder Versager beschimpfe und sie verletzt sind, liegt es an ihnen, ansonsten würden sie etwa sagen "jetzt ist der Holstiege völlig durchgedreht!".

Besonders intensiv und unabgegrenzt spielt sich dies in engen und intimen Beziehungen wie etwa in Eltern-Kind- oder Partnerbeziehungen ab. Eine ursprünglich sich selbst als existentiell entwertet wahrnehmende Mutter sieht das Kind als entwertet wie böse, egoistisch an. Ihren eigenen Kummer, ihren Ärger oder ihre Sorgen sieht sie nicht als Verursacher in sich selbst, sondern am Kind. Dies verursacht ihr die Sorgen. Oder die Ursachen bei Schuldgefühlen werden in dem äußeren Verursacher gesehen, nicht in dem eigenen Mutterboden bzw. der Matrix. Die Mutter nimmt im Kind sozusagen ihre eigene ursprünglich bedrohliche Mutter wahr. Das führt zum später beschriebenen Abwehrmechanismus der Projektiven Identifizierung. Für den Projizierenden hat das den Vorteil, sich selbst als gut anzusehen.

Idealisierung

Die Bedrohung führt automatisch zum Gegenteil bzw. erzeugt automatisch ein Gegenbild, der Idealisierung, Omnipotenz, Heroisierung, Vergöttlichung, 100 %, des Alleskönnens- und wissens. Dabei gehen sämtliche Differenzierungen von guten und schlechten Anteilen, Vor- und Nachteilen, Wissens und Nichtwissens verloren. Es gibt nur noch gute und schlechte Menschen. Die im griechischen Mythos dargestellte Hybris (Frevel) des Menschen, der Gottgleichheit, oder im biblischen Mythos der Schöpfungsgeschichte, das Apfelessen vom Baume der Erkenntnis, ist also eine Folge der Traumatisierung. Man könnte die Idealisierung auch als Schutz, sich sozusagen unangreifbar machen, und Kompensation der Bedrohung wie der totalen Entwertung ansehen.

Soziale Einflüsse im individuellen Werdegang

Ähnlich wie phylogenetische und transgenerationelle Prägungen finden ontogenetische Prägungen im Werdegang eines jeden einzelnen Menschen statt. Die Haupterfahrungen prägen sich in der Kindheit ein, je früher und je stärker, desto intensiver, in der frühesten Kindheit wenig artikulierbar unbewußt, mehr über nonverbale Sinneseindrücke wahrgenommen, die erst später nachträglich nach einem Bearbeitungsprozeß und somit schon verändert verbalisierbar sind. Die Prägungen treffen auf ein völlig ungeprägtes menschliches Wesen, es sei denn, man glaubt an die Gene. Bis auf die Sinnesorgane und ein paar Essentials wie die Bedrohungsausrichtung, die es ähnlich Säugetieren zum Gedeihen existentiell notwendig braucht, hat es noch keine Kriterien von Bewertungen und Bedeutungen. Diese entwickelt es erst langsam durch seine Erfahrungen und die Aussagen des Umfeldes. Die Primärpersonen vermitteln ihre Wahrnehmung der Welt nicht nur verbal und nonverbal über Laute, Gestik und Mimik, sondern vor allem über ihr eigenes Handeln, hinter dem ihr Weltbild steht. Wenn etwa eine Mutter ihr Kind als böse wahrnimmt, wird dieses oft genug handgreiflich spüren. Es übernimmt in sein Selbstbild, daß es böse ist. Die Vermittlungen bzw. Übertragungen bedürfen eines langwierigen Konsolidisierungsprozesses, alltäglicher Erfahrungen, der wie oben erwähnt für Unterbrechungen anfällig ist. Es entwickeln sich beim Kind eingeschliffene Erlebnis- und Verhaltensweisen, die Mechanismen und Automatismen, nach dem Vorbild des Umfeldes.

Ich bin nicht der Meinung, daß die Kultur und der Charakter eines Individuums schon in den Anlagen festgelegt sind, sondern eine Frage des kulturellen Prägeprozesses ist. Einen Hinweis gibt mir das Buch „die Wilden Kinder“, in dem über Kinder berichtet wird, die nicht in einem menschlichen Umfeld, sondern unter Tieren aufgewachsen sind. Sie entwickeln keine menschlichen Züge, und ein Entwicklungsprozeß mit menschlichen Zügen ist nur schwer nachholbar bzw. umkehrbar. Wie sehr der werdende Mensch in seiner Entwicklung auf zwischenmenschliche Einflüsse angewiesen ist, zeigt das Experiment im Mittelalter von Kaiser Friedrich, dem Zweiten. Er glaubte, daß es eine menschliche Ursprache gebe, und um diese kennen zu lernen, versuchte er Säuglinge bei guter Ernährung ohne menschliche Kontakte aufwachsen zu lassen. Alle Säuglinge starben.

Grundbedürfnisse in der menschlichen Entwicklung

Im Folgenden möchte ich versuchen, einige mir wesentliche Essentials zur Entwicklung einer einigermaßen gelungenen zufriedenen, sich selbst und andere achtenden, differenzierenden und integrierten menschlichen Persönlichkeit darzustellen. Dazu gehört meines Erachtens, die realistische Einschätzung der eigenen Persönlichkeit, sich selbst nicht überwertig oder minderwertig, die zwischenmenschlichen Grenzen zu sehen, etwa das Eigene und das Fremde zu unterscheiden bzw. was in der eigenen Person steckt und von außen kommt, also eine Differenzierung und Integration der verschiedenen Anteile.

Neben der Befriedigung physiologische Grundbedürfnisse wie Hunger, Durst und Wärme halte ich ein Grundbedürfnisse nach Bindung bzw. nach zwischenmenschlichen Beziehungen für zentral. In diesem Bindungsbedürfnis bestehen zwei Hauptfaktoren, einmal nach einer sicheren Basis von Sicherheit, Anerkennung, Wärme und Nähe, zum anderen nach eine Ermutigung, die Welt selbstständig zu erkunden. Zu beiden Bereichen gehört ein Grundbedürfnisse nach Selbstbehauptung oder Selbstbestimmung innerhalb und außerhalb der Beziehung. Um dies zu gewährleisten, ist eine gewisse Feinfühligkeit oder Empathie in die Grundbedürfnisse des Kindes von seiten des Umfeldes und der Primärpersonen notwendig. Dies hängt davon ab, inwieweit das Umfeld diese an sich selbst erlebt hat. Insofern besteht eine transgenerationelle Prägung. Die wichtigste Prägungsphase des Bindungsverhaltens ist die Phase zwischen den 12. und 18. Monat, in der das Kind zwischen der Geborgenheit und Sicherheit bei der Mutter und der Selbstentfaltung hin und her pendelt. Man kann dies an einem die Umwelt erkundenden Kleinkind sehen, daß es anfänglich immer zur Primärperson zurückschaut, um sich ihrer zu vergewissern.

Grob unterteilt würde ich drei Grundformen der Bindung mit vielfältigen Zwischen- und Unterformen unterscheiden: Einmal die sichere Bindung, dann die unsichere Bindung, drittens die verstrickte Bindung. In der sicheren Bindung besitzt das Kind, später der Erwachsene, ein Sicherheitsgefühl, Vertrauen in die Primärpersonen und Selbstvertrauen in der Entfaltung in der Umwelt. In der unsicheren Bindung besteht diese Sicherheit und dieses Vertrauen nicht. Der späterer Erwachsener kann schwer sichere, langfristig stabile Bindungen und Beziehungen eingehen. Nähe ist von Mißtrauen geprägt. Der Erwachsene wird vor allem auf Unabhängigkeit und Souveränität bestehen. Sein Bedürfnis nach Nähe, Wärme und Vertrauen ist nicht ausreichend erfüllt. Diese Bindungsform kann ihm jedoch auch eine gewisse Stabilität vermitteln. Am schwierigsten und am meisten zu Krankheiten disponierend ist die verstrickte Bindung. In der Nähe besteht Unsicherheit und Mißtrauen, aber eine Loslösung und Unabhängigkeit ist auch nicht möglich. Es besteht eine Haften an den nahen Beziehungen. Gründe für die Verstrickung etwa können sein, Verlustangst, Loslösungsschuld, Anspruch auf Honorierung und Ausgleich, Vergeltungsanspruch, unsicheres Selbstbild und bild der Umwelt, dadurch Entfaltungs- bzw. Autonomieängste.

Schon in der vorgeburtlichen Phase sind Ausgeglichenheit der Mutter, Akzeptanz und Freude auf das Kind wichtig. Spannungen, Ängste und Zerrissenheit der Mutter können zur Störung der Blut- und Sauerstoffzufuhr und im schlimmsten Fall zum Absterben des Kindes führen. Die Geburt kann durch Ängste und Aggressionen der Mutter behindert oder unmöglich werden. In der frühen Phase nach der Geburt gilt dasselbe. Zusätzlich ist die körperliche Anwesenheit und die ausgeglichene emotionale Zuwendung wichtig. Dazu Beispiele von Störungen: Zeitunglesen oder Telefonieren während des Fläschchengebens oder Stillens, weil dies der Mutter zu langweilig ist, also emotionale Abwesenheit können dazu führen, daß das Kind nicht trinkt. Dann kann die Mutter ungeduldig oder aggressiv auf das Kind werden, wobei diese Spannungen sich übertragen und zu weiteren Störungen und einem Teufelskreislauf führen können, wie etwa später bei der Neurodermitis erwähnt. Weiterhin kann die basale Geborgenheit und Sicherheit des Kindes durch Erkrankungen der Mutter wie Depression oder Psychose massiv gestört werden, die es zur Reifung und zur Wahrnehmung essentialer Grundfunktionen dringend benötigt. Gestörtes Bindungsverhalten wird vor allem in Konflikt-, Krisensituationen und in Streß aktiviert. Eine Einschätzung der frühen Prägung kann später im Umgang mit Krisen und bei Krankheitserfahrungen sich verdeutlichen.

Im weiteren Verlauf der frühen und späteren Kindheit nehmen die Übertragung der bilder, Bewertungen und Bedeutungen des Umfeldes, vor allem der wichtigsten Primärpersonen, meistens der Mutter, vermittelt durch ihr Handeln, einen immer breiteren und wichtigeren Raum ein, die das Kind in sein Selbstbild übernimmt. Das Selbst bzw. die Identität des Kindes ist also immer eine soziale Identität, eine Kopie und Spiegel des Umfeldes. Eine ursprüngliche oder autochthone Identität des Kindes ist also unrealistisch. Für das Kind und sein Gedeihen ist es wichtig, inwieweit ihm positive oder negative Botschaften über sein Selbst und die Umwelt übermittelt werden. Wird ihm ein positives Selbst übermittelt, erlebt es sich positiv und fühlt sich sicher und geborgen in seinem Umfeld. Wird ihm ein negatives Selbst übermittelt, gerät es in innere Konflikte, Spannungen, Unsicherheiten nicht nur in sich, sondern auch in seinem Umfeld, die seine Weiterentwicklung stören und beeinträchtigen. Da das Kind nach seiner erworbenen Identität handelt, wird es sich ein sicheres und geborgenes Leben bzw. weitere Konflikte schaffen. Wird dem Kind zwar ein positives Selbstbild, aber ein negatives bild von der Umwelt vermittelt, wird es zwar in sich selbst sich sicher und geborgen fühlen, aber ein Entfaltung in dieser bösen Umwelt behindert.

Im Prägeprozeß der Wahrnehmungen scheint es mir so zu sein, daß das Kind mehr den Überzeugungen und Definitionen der primären Bezugspersonen glaubt als den eigenen Wahrnehmungen. Sie haben einen stärkeren Realitätsgehalt. Ich nehme an, daß die am meisten anwesende frühe Bezugsperson die meiste Prägekraft besitzt, in vielen Kulturkreisen und Familien die Mutter. Deswegen spreche ich im Folgenden nur von der Mutter. Anders ausgedrückt, die Fremdwahrnehmung kann an die Stelle der eigenen Wahrnehmung eingeprägt werden und bestimmt das eigene Selbstbild und somit das Sein. Im bild ist allein schon durch die Größenverhältnisse leicht zu veranschaulichen, daß das kleine Kind der großen voll überzeugten Mutter mehr glaubt als sich selbst. Das Kind weiß in Ermanglung eigener Prägungen noch nicht, was es glauben soll. Die Mutter hat die Definitions- und Prägungsmacht. Ihre Zuschreibungen werden mehr als die eigenen Wahrnehmungen zum eigenen Selbst. Es sieht sich und die Welt mit den Augen der Mutter. Dann übernimmt etwa der Depressive immer den Standpunkt des Anderen, versucht diesen zu rechtfertigen und entschuldigen, muß die eigenen Aggressionen unterdrücken, so daß sie sich gegen das eigen Selbst wenden, wofür er normalerweise keine Wahrnehmung hat.

Dazu das Beispiel einer früheren Patientin: Sie war bei ihrer Oma aufgewachsen und diese habe ihr immer gesagt „sie sei froh und glücklich, daß sie bei ihrer Oma aufwachsen dürfe“. Und sie war laut ihrer Aussage froh und glücklich, bei einer Frau, von der die Nachbarschaft von einer Hexe sprach - sie hob den Zusammenhang selbst hervor-. Erst in der Pubertät hätte die massive Bevormundung zu gravierenden selbstwahrgenommenen Spannungen geführt, weswegen sie eine Therapie aufsuchte. Allerdings führte die Definitionsmachtder Oma und ihre eigene Loslösungsangst- und schuld dazu, daß sie die Therapie bald wieder abbrach. Psychoanalytisch spricht man von einem Falschen Selbst und/oder einer Identikation mit dem Aggressor.

Beispielhaft möchte ich eine gelungene oder gestörte Mutter-Kind-Beziehung veranschaulichen. Wenn die Mutter auf die Grundbedürfnisse des Kindes nach Zuwendung, Sicherheit, Anerkennung (der berühmte Glanz im Auge der Mutter oder ihr freudiges Lächeln, stattdessen ihre Angst oder Wut), Geborgenheit, Halt, Nähe nicht eingeht, eingehen kann oder bewußt nicht will, weil sie ganz andere Dinge im Kopf hat etwa den Haushalt, ihre eigene Anerkennung im Beruf oder Umfeld, oder in einer Depression, Psychose oder anderen Erkrankungen oder in Zwistigkeiten mit ihrem Mann, ihrer Mutter und weiterem Umfeld oder in Sorgen etwa um die Gesundheit um das Kind verstrickt ist und so mit sich selbst beschäftigt ist, daß kein innerer Raum für die Zuwendung und Interessen des Kindes übrig bleibt, wird das Kind versuchen, alle diese für seine gelungene Entwicklung notwendigen Erfordernisse und Essentials doch irgendwie zu erlangen. Die Störungen spielen sich meist auf dem Boden bzw. Hintergrund ihrer eigenen Muttererfahrung ab. Dadurch wird es der Mutter lästig und zur Last, sie entwickelt Aggressionen auf das Kind, straft es mit vermehrter Abwendung und Liebesentzug, manchmal sogar mit körperlichen Schlägen und Mißhandlungen. Sie mag die Wünsche des Kindes als Diktat für sich empfinden, manche Mütter erleben ihr Kind als Monster, das oft um so zudringlicher wird, und gerät mit dem Kind in einen Kampf. Sie alle kennen diese überforderten Mütter. An anderer Stelle berichtete ich von einer Patientin, die bei der Vorstellung eines erwünschten Kindes nur die zukünftige Realität sah "ewige Fürsorge und Aufopferung". Ihre Spannungen übertragen sich auf das Kind. Durch den Mangel und die falsche, nämlich aggressive Zuwendung gerät das Kind schon von sich aus in innere Spannungen, die noch durch die von der Mutter übernommenen potenziert werden. Es fühlt sich allein gelassen, ungeliebt, hechelt nach Liebe und wird der Mutter um so mehr zur Last. Es können sich Teufelskreisläufe einspielen.

Diese basale Sicherheit, den Boden zur Mutter, braucht das Kind, um sich entfalten, fremden Personen und eigenem Spiel zuwenden zu können. Erhält es sie nicht, braucht es sie noch dringend und klebt an der Mutter, wird noch mehr zur Last. Es entsteht eine verstrickte Bindung. Auch ist es vermehrt krankheitsanfällig, und die Sorgen der Mutter werden bestätigt. Oft erlangt das Kind gerade durch die Krankheit die fürsorgliche Zuwendung der Mutter und ist aller Aggressionen und Strafen enthoben. Dadurch wird es geradezu zur Krankheit verführt. In Schwellensituationen sozialer Anforderungen der autonomen Entwicklung wie etwa Kindergarten, Schule, Geschlechtsreifung, sogar Berufs- oder Studienantritt neigt das Kind zu Regressionen wie vermehrten Erkrankungen, Ängsten wie Versagensängsten und als Folge Versagen. Manchmal kehrt es in den Schoß der Mutter zurück aus Ängsten, die ihr die Mutter gemacht hat, wie ich mehrfach an schwer depressiven Patienten erlebt habe. (Das erinnert mich an das Katz und Mausspiel: Die Maus sucht Schutz vor der Katze unter dem Bauch der Katze). In einer gelungenen basalen Beziehung erlebt die Mutter Freude an den expansiven und autonomen Schritten ihres Kindes - wenn sie nicht zu hohe Ansprüche hat. Dann erlebt sie Enttäuschung, Sorge und Wut, an der sich das Kind schuldig und verantwortlich sieht. (Das (Un)Wort Verantwortung lehne ich ab, obwohl es in aller Munde geführt wird. Schon die Vorsilbe "ver" deutet darauf hin, daß in einer Wechselbeziehung von Rede und Antwort, einem Dialog, etwa schief und aneinander vorbei läuft. Schließlich hat jeder die Folgen für seine Handlungen zu tragen, ob er sie mit oder ohne Verantwortung, also verantwortungslos, macht. Menschen in höheren Positionen schanzen sich höhere Gehälter zu, weil sie die Verantwortung tragen. Wenn etwas schief läuft, haben alle die Folgen zu tragen. Im biblischen Mythos wurde das Jesuskind für Christophorus zur unheimlichen Last, weil es und somit er die Verantwortung für die Welt trug.)

Da das Kind der Mutter mehr glaubt als sich selbst, kann es sich nicht auf sich selbst und seine eigene Wahrnehmung verlassen. Es gerät in innere Diskrepanzen und Selbstzweifel, wobei aber auch ein Rest Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung übrig bleiben kann, also daß die Selbstwahrnehmung nicht völlig durch die Fremdwahrnehmung der Mutter ersetzt ist. Als Folge besteht eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der eigenen Person und der Bezugspersonen und der Fremdzuschreibung, etwa wie die Mutter ist und wie das Kind ist. Die verschiedenen Anteile von Selbst- und eingeprägter Fremdwahrnehmung bestehen nebeneinander und können zu einer innern Zerreißprobe führen. Wie ist es selbst und wie ist die Mutter und andere Personen?

Normalerweise wünschen Mütter und Eltern für ihre Kinder das Beste. Haben sie eine schlechte Kindheit erlebt, wünschen sie sich für ihre Kinder das Gegenteil. Sie versuchen dem Kind zugeben, was sie selbst nicht hatten, etwa mit Spielsachen zu verwöhnen. Dabei geraten sie bei einem inneren Vergleich mit dem Kind in einer benachteiligte Rolle. Das Kind bekommt das, was sie selbst nicht hatten. Oft entsteht Mißgunst, da das Kind es viel besser hat, als sie selbst es je hatten und wegen des Fortbestehens ihrer inneren Mechanismen hat und wohl kaum jemals haben wird. In dieser Situation besteht die Neigung, dem Kind die Vergünstigung wieder zu zerstören. Die Mutter gerät in den inneren Zwiespalt, einerseits alles Gute für das Kind zu tun, anderes dieses wiederum zu zerstören. In beiden Fällen ist sie durch die Selbstbesetzung mit dem Kind identifiziert und ihr Leiden wird sich im Kind fortsetzen.

Frühe und spätere Wahrnehmungen können auch in verschiedenen Schichten eingeprägt werden, wobei die früheren und intensiveren eine stärkere Prägekraft und somit Macht haben als die späteren und weniger intensiven Wahrnehmungen. So sagte mir einmal ein Patient „ich glaube Ihnen, daß Sie recht haben, aber ich weiß, tief in meinem Inneren gebe ich Ihnen nicht recht.“ Bei den frühen Engrammen spricht man gerne von Gefühl oder Bauch, bei den späteren von Verstand oder Kopf. Ich meine, alles spielt sich im Kopf in verschiedenen Bereichen und Schichten ab mit Auswirkungen über das Nerven- und chemische Transmittersystem.

Die Selbstzuschreibung der Mutter kann sich also erheblich von dem unterscheiden, was das Kind wahrnimmt und was mit ihm geschieht. Ein Mutter glaubt etwa, daß sie die Beste ist und nur das Beste für ihr Kind will. Sie hält dem Kind vor, „Du machst mir ewig Kummer, Ärger und Sorgen“ – für Dinge für die sich andere Mütter keinerlei Sorgen machen würden, sondern als völlig normal ansähen, etwa Trotz oder eine mittelgute Schulbenotung. Das Kind nimmt aber die Mutter wahr, daß sie es schlägt, verurteilt, fortwährend zu Dingen zwingt, die ihm gar nicht entsprechen und zu ihm passen. Es übernimmt die Wahrnehmung der Mutter, die Mutter ist die Gute, und es selbst ist böse und an allem schuld. Das Kind nimmt sich also mit den Augen der Mutter wahr. Es richtet sich nach der Wahrheit und den Wünschen der Mutter bis zur Selbstaufgabe, um in den übernommenen Augen gut zu sein. Es gibt viele Teile seines Kindseins auf. Und trotzdem, manchen Müttern ist es aufgrund ihrer Wahrnehmungen und Prägungen nie recht zu machen. Durch die Identifizierung mit der Mutter ist es als Folge dem Kind nie recht zu machen.

Das Kind übernimmt die Zuschreibungen und Definitionen voll in sein Selbst- und Weltbild und handelt nach diesen Prägungen. Man könnte von einer heteronomen Autonomie sprechen. Solange der Mutter nicht klar ist, daß sie ihre eigenen inneren Realitäten, etwa ihren ewigen Kummer, Ärger oder Sorgen, auf das Kind überträgt, kann das Kind auch nicht sehen, daß die Gründe eher bei der Mutter liegen als bei ihm, und es fühlt sich schuldig. So etwa sieht das Kind die Ursachen bei sich selber und fühlt sich schuldig, wenn die Mutter im vorwirft" Du machst mir solchen Ärger und Sorgen " für Dinge, über die sich andere Mütter keine Sorgen und Ärger machen würden. Da diese Zuschreibungen fortleben, wird es sich später als Erwachsener noch schuldig fühlen.

Umgekehrt, wenn das Kind für seinen Bravsein und Angepaßtsein Bestätigung und Lob erhält, wird es in diesem Wege bestätigt, der unter Umständen nicht seinen Interessen entspricht. Es erhält sozusagen Beifall von der falschen Seite, nicht für seiner Selbstentfaltung oder selbstbestimmte Autonomie, sondern für seine Unterwerfung und Fremdbestimmung. Das Kind kann aber auch ein gegenteiligen Weg einschlagen und als Erwachsener später seinen Weg und seinen Stolz darin finden, überall zu protestieren, rebellieren und alle Erwartungen nicht zu erfüllen und sich dadurch unnötige Konflikte zu schaffen. Oft wird es zwischen den gegenteiligen Positionen und Verhaltensweisen hin und her schwanken, mal angepaßt und unterwürfig sich verhalten, mal trotzig und rebellisch. Wegen dieses Lenkens in die falsche Richtung reagieren viele auf Lob mißtrauisch.

Die Wünsche der Eltern können auf den bewußten und unbewußten Ebenen verschieden sein. Bewußt verlangt die Mutter ein braves, auf sie hörendes Kind, unbewußtverlangt sie ein trotziges, rebellisches Kind, so wie sie nie gewesen ist, damit sie auf das Kind und somit auf sich selbst als Mutter stolz sein kann. Anpassung, Unterwerfung und Selbsterniedrigung führen oft zu Selbstverurteilung, -verachtung und Selbsthaß. Die Mutter kann also auf der unteren Ebene ein angepaßtes Kind verachten.

Die Eigen- und zum Eigenen gemachten Fremdwahrnehmungen und das auch noch auf verschiedenen Ebenen können einen Menschen in Verwirrung, Verzweiflung, Zerrissenheit stürzen und total verrückt machen. Manche werden tatsächlich verrückt, meiner Meinung einer der wesentlichen Faktoren von Erkrankungen, nicht nur auf der psychischen, sondern auch auf der körperlichen Ebene.

Transgenerationelle Prägungen

Die Prägungen des Kindes erfolgen über die Mutter und das Umfeld. Diese wiederum ist ihrerseits geprägt von ihrer Mutter, diese von ihrer und so weiter über Generationen hinweg. Irgendwann in früheren Generationen sind die Aussagen entstanden, die das Kind an sich erlebt. Beispielsweise hatte ich diesen Eindruck bei Fällen von Epilepsie „die Urgroßmutter, die Großmutter, die Mutter und die Tanten haben schon gesagt, daß Du derjenige bist, der ...!“, etwas furchtbar Böses wurde am Stigmatisierten festgemacht, der dann völlig hilflos in einem Anfall von unterdrückter Wut und Angst hilflos wie in einem Spinnennetz zappelt.

Im Mythos etwa in der biblischen Schöpfungsgeschichte ist dieser Sachverhalt folgendermaßen festgehalten „im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“. Für das Kind ist der Gott anders als in der Bibel meist die Mutter, an deren Gesetz es sich zu halten hat. Von dem Mann und Vater Gott kommt das Gute und von der Frau Eva das Böse. In der Bibel ist der Sündenfall, den Apfel, etwas ganz banales, zu essen. Dem Apfelbaum „Baum der Erkenntnis“ und der Übertretung des Gebots „frevelhafte Gottgleichheit“ sind bestimmte Bedeutungen zugeschrieben. Heute würde man sagen, Selbstbestimmung ist die Schuld und Sünde. Sie kann aus der Bibelperspektive nur vom Bösen, dem Teufel kommen und überträgt sich auf jeden, der entgegen den Weisungen von oben seine Handlungen selbst bestimmt. Die heutige Definition Selbstbestimmung gilt beim Kleinkind als der Trotz und Ungehorsam. Aus einer anderen Perspektive, nämlich der des Stigmatisierten, denke ich, das Böse in Eva symbolisiert sozusagen die Macht der Mutter und diese Stigmatisierung ist die Strafe für die Macht der Frau über das Kleinkind. Die Erbsünde spürt noch heute jeder gläubige Christ in sich.

Inwieweit das Wort über alle Zeiten und Umstände gilt, dazu möchte ich eine Geschichte erzählen. Ein Patient aus dem ehemaligen Jugoslawien, der wegen Studienschwierigkeiten und Examensängsten mich aufsuchte, schilderte, daß sein Vater seine Mutter immer der Untreue bezichtigte habe, obwohl er ständig selbst fremd ging. Dann hatte sich der Vater getrennt und eine Freundin geheiratet. Beide Söhne füllten sich verantwortlich, sich um ihrer Mutter zu kümmern und konnte sich nichtselbstständig machen. Das Examen hätte einen Selbstständigkeitsschritt bedeutet. Als ich meinte, jetzt sei die Mutter doch frei und könne sich einen neuen Mann besorgen und müsse nicht ihre Söhne als Ersatzpartner fest halten, meinte er " das würde sie nie tun, dann hätte der Vater ja recht gehabt ".

Ein anderes Beispiel ist der Fall Schreber, dem Erfinder der Schrebergärten. Er schrieb im 19. Jahrhundert die meistgelesenen und den Erziehungsstil prägenden pädagogischen Bücher, deren Haupttenor war „der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen“. Sicherlich konnten die Bücher von Schreber nur deswegen so erfolgreich werden, da sie auf den damaligen Zeitgeist trafen bzw. Ausdruck dessen waren, das Volk also schon vorher daran geglaubt hatte, und in seiner Verunsicherung über den richtigen Erziehungsstil, einem an sich guten Vorhaben, stringente Normen suchte. Mit dem Wille ist der eigene Wille, Trotz und die Selbstbestimmung gemeint. Infolge eines angenommenen autochthonen Bedürfnisses nach Selbstbestimmung provoziert meiner Ansicht nach die Forderungen nach absolutem Gehorsam geradezu Trotz und Widerstand, der dann wiederum gebrochen werden muß. Schreber hat auch orthopädische Apparate zur geraden Haltung erfunden. In diesem Zeitgeist wird das Kind sozusagen gebeugt und gedrückt mit dem Anspruch nach gerader Haltung. Kein Wunder, dass Wirbelsäulendeformationen und noch heute weit verbreitete Rückenbeschwerden die Folge sind. Menschen wurden gebeugt mit der Aufforderung „halt’ dich gerade!" Ein Sohn Schrebers wurde schizophren, ein anderer hat Suizid begangen. Aus anderer Perspektive ließen die Eltern sozusagen ihre Wut auf die Eltern stellvertretend an ihren Kindern aus.

Generationen derartig gebrochener Menschen konnten ihre Wut und ihren Hass nicht an den Erziehern loswerden, weil sie selbst an die Richtigkeit von absolutem Gehorsam glaubten. Dies erklärt in meinen Augen, daß bei den Nazis der tödliche Hass auf Sündenböcke abgeleitet wurde wie die Juden, Zigeuner, Schwule u. a., die schon vorher als Andersartige unbeliebt waren. Ich will nur erklären, nicht entschuldigen. Es zeigt aber auch, wie wichtig Programme wären mit dem Ziel, daß etwa Neonazis als Folge ihrer verinnerlichten Entwertungen ihre Würde wiedergewinnen.

Als nächstes Beispiel der jahrhundertalten Überlieferungen im mittleren afrikanischen Gürtel möchte ich den grausamen Brauch der Beschneidung bis zur Pharaonischen Beschneidung, an dem viele Mädchen erkranken und manche sterben, anführen. Das Ziel ist, treue, anständige Ehefrauen zu schaffen, die keinerlei Lust mehr zu einem sündigen Lebenswandel haben. Dahinter steckt die Überzeugung, daß Frauen sexbesessen und mannstoll o. ä. sind. Die Beschneidung wird gemäß der Natur der Engramme von Frauen getragen und ausgeführt, die selbst beschnitten sind. Sie fügen den Jungen das selbst erlittene Leid zu und ihr Handeln bringt ihnen Achtung und Geld. In grauer Vorzeit und auch noch heute führte die Untreue von Ehefrauen zu Katastrophen wie Mord und Totschlag oder auch tödlichen Geschlechtskrankheiten wie die Lues, noch heute zu Aids, so daß mit allen Mitteln die Untreue verhindert werden werden muß.

Tragik der Verhinderungsstrategie

Diese Beispiele zeigen, wie ursprünglich gute Absichten nach vorherigen katastrophalen Erfahrungen gerade durch die Verhinderungsstrategie zu katastrophalen Folgen führen. Darin sehe ich die menschliche Tragik. Die Verhinderungsbemühungen selbst können die Katastrophen schaffen. Wie oben bei den neurobiologischen Ausführungen beschrieben, führen die eingeschriebenen Erfahrungen zu Erwartungen in die Zukunft, den Antizipationen oder Prophezeiungen. Nicht eingeprägte Wahrnehmungen können auch nicht als Vision erwartet werden, es sei denn der Mensch hat die Erfahrung, daß auch vieles passieren kann, was nicht vorauszusehen ist. Dies geht aber nur, wenn er nicht allzu schlimmes zu befürchten hat.

Zur weiteren Veranschaulichung möchte ich wieder auf den griechischen Mythos zurückgreifen – die blinden Seher. Nach Katastrophen wie Naturereignissen wandten sich die Griechen an die Orakel. Das Bekannteste war das Orakel von Delphi. Blinde Seher prophezeiten dort die Zukunft. Auf dem Hintergrund einer katastrophalen Vergangenheit und zur Verhinderung weiterer Katastrophen wurden sie aufgesucht und sahen prophetisch bzw. hellseherisch entsprechend den Vorbahnungen die erwartete Zukunft. Diese schlimmen vergangenen Ereignisse nahmen einen so breiten Raum im Geist der Handelnden ein, daß wenig Platz für andere Zukunftsmöglichkeiten übrig blieb. Nach einer grausamen traumatischen Kindheit etwa bestehen wenig Vorbahnungen für andere Ausgänge und Möglichkeiten. Für diese waren sie blind. Zur Verhinderung dieser Prophezeiungen mußte selbstverständlich alles getan werden, in der Ödipussage der versuchte Sohnesmord. Ohne die Prophezeiung und eine Kette zufälliger Ereignisse wäre die weitere Tragödie, Vatermord und Inzest, wohl kaum eingetreten.

Die Tragödie der Verhinderungsstrategie in der Ödipussage ging weiter. Die Blendung des Ödipus bedeutet laut Prof. Patzer, einem Altphilologen in Frankfurt, daß er seine Schande in den Augen des Umfeldes nicht sehen wollte. Seine Selbstblendung war seine Verhinderungsstrategie, da er seine eigenen Augen in den Augen der Anderen sah als seine Selbstverurteilung. Den Hintergrund bildeten dank seiner Erziehung schlimme bilder von Schande und abgrundtiefer Verurteilung, eine schlimme Vergangenheit mit rigiden Normen, die das Volk von Theben nicht teilte. Aufgrund seiner rigiden, selbstverurteilenden Normen waren keine Engramme und Vorbahnungen bzw. Vorlagen für andere Sichtweisen vorhanden. So konnte er durch die Blendung nicht sehen, daß das Volk ihn nicht verachtete, sondern ihn als gütigen König achtete, Mitleid mit ihm hatte und ihn als Opfer einer zufälligen unglücklichen Verkettung von Ereignissen sah.

Ich halte es für ein ebenfalls autochthones Bedürfnis des Menschen ein bestimmtes Außenbild zu vermitteln, wie er sich am liebsten sieht. Bestehen jedoch strenge innere Verurteilungen, gehen die Unterschiede in den Sichtweisen verloren. Es werden die eigenen Augen im Umfeld gesehen. „Was sollen die Leute, Nachbarn, Freunde denken oder sagen“, der gute Eindruck, Ruf, Image sind die höchsten Ziele. Schande, Scham, Sünde, Schuld, Verachtung, Peinlichkeit, Lächerlichkeit werden gefürchtet und müssen unter allen Umständen vermieden werden. Im zwischenmenschlichen Dialog geht es praktisch nur um das narzißtische Überleben, etwa nicht vor Scham im Boden zu versinken, das Gesicht zu verlieren oder völlig unten durch zu sein. In manchen Kulturen wird als Folge von Verurteilung und Ausgrenzung der Vodoo-Tod gewählt. Dies kann einzelne kleinere Bereiche, aber auch weite Teile der Gesamtpersönlichkeit betreffen. Etwa die Bloßstellung des wahren inneren Kerns wird gefürchtet oder die zukünftige Verurteilung. Diese Form der zwischenmenschliche Kommunikation nenne ich Digitalen Dialog im Gegensatz zum Analogen Dialog, wo der Mensch einfach so sein kann, wie er sich fühlt und ist, ohne schlimmes befürchten zu müssen. Blindheit besteht gegenüber den eigenen Kriterien. Die schlimmen Vergangenheitserlebnisse nehmen einen so breiten Raum ein, daß kein oder wenig Raum für andere Möglichkeiten bleibt.

Dazu ein paar in meinen Augen einprägsame Beispiele: Ich hatte einen Patienten, der sich in meinen Augen sozusagen in seiner eigenen Wohnung vor sich selbst versteckt hat. Wie das? Er war arbeitslos und betrachtete das als eine solche Schande, daß er tagsüber, wenn er sich in seiner Wohnung befand, unter dem Fenster herkroch, damit ihn niemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen konnte. Was die sonst denken würden... glaubte er. Wahrscheinlich hätte kaum jemand in dem Moment das Gleiche gedacht wie er – und wenn, dann hätte das mehr über den Anderen und dessen Sichtweise und Vorurteile ausgesagt als über ihn. Manche Arbeitslose gehen morgens in vollem Arbeitsdress aus dem Haus, um den Anschein zu erwecken, sie gehen einer Arbeit nach. Manche sagen noch nicht einmal ihrer eigenen Familie Bescheid.

In früheren Gruppen hatte ich ein paar mal erlebt, daß Frauen mit einer Angstsymptomatik sagten „ich verstehe das nicht, ich bin so unsicher und ängstlich und alle sagen mir, wie sicher und souverän ich bin!“. Auf meine Frage „was wäre, wenn man es ihnen ansieht?“, kam regelmäßig „um Gottes willen, welche Blamage, ich wäre unten durch, das würde ausgenützt...!“ Während sie alles taten, daß kaum ein Mensch ihnen ihre Angst ansah, glaubten sie, jeder würde es ihnen ansehen – ein kleiner Wahn, ständige Bloßstellung fürchtend und erlebend bei Frauen, die voll in der Arbeitswelt ihren Mann standen. Dies Beispiel habe ich wiederholt Patienten/innen zur Veranschaulichung erzählt, und sie bestätigten, daß es sich bei ihnen ähnlich verhalte.

Ein Patient, früherer Drogenabhängiger, schilderte fortwährend, wie schlecht es ihm gehen, welche Schmerzen er empfinde. Gleichzeitig saß er süffisant lächelnd, dick und breit wie die Made im Speck wirkend, ein Sinnbild des Wohlbefindens und der Behaglichkeit, in seinem Sessel. Hätte man ihm sein Befinden äußerlich angesehen, das wäre für ihn das Schlimmste gewesen. Er fürchtete die Lächerlichkeit, daß sein Zustand ausgenutzt würde, wo er sowieso ein Blitzableiter für das Befinden anderer sei. Von dieser Gefährdung erlebte ich überhaupt nichts. Er erzeugte eher Neid auf sein Wohlbefinden. Aber das Menschen durch ihren äußeren Ausdruck andere aufwerten, stärker und sicherer machen, so wie es dieser Patient für sich innerlich empfand, ist mir sehr vertraut. Wiederum anderer erzeugen durch ihre Souveränität und ihr sicheres Auftreten in anderen Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexe. Auf dieser Welle stabilisieren sie ihre innere Unsicherheit, so wie es dieser Patient versuchte.

Ein noch tragischeres Beispiel: Vor ein paar Jahren las ich im Stern einen Artikel über Amokläufer. Ein Fall ist mir noch in Erinnerung, ich meine, es war ein Lehrer mit Namen Wagner. Er hatte plötzlich auf der Strasse mehrere Leute erschossen und saß lebenslang in der Psychiatrie. Als gebildeter Mann, der sich gut schildern konnte, wurde er häufig von Fachleuten aufgesucht und schrieb Bücher über seinem Fall. Eines hatte er sich jedoch nie eingestanden, daß sein bild, jeder sehe ihm seine Sodomie an, ein Wahn sei. Ich interpretiere den Fall, die Strasse war für ihn die Bühne der Bloßstellung und Schande. In einem Anfall von Zerstörungswut und innerem Ausnahmezustand hatte er die ihn bloßstellenden Gesichter auszulöschen versucht. Er handelte entgegengesetzt dem Ödipus, der seine eigenen Augen auslöschte. Hätte er sich den Wahn vergegenwärtigt, wäre seine Tat sinnlos geworden, und er wäre verrückt geworden oder hätte sich umgebracht. Der Wahn diente also dem narzißtischen Überleben.

Ein Patient, ehemaliger Drogenabhängiger, späterer Bankräuber und Kleptomaniker, schilderte seine Qual: Wenn er in innere Erregungszustände kam, seine Ehefrau ihm etwas ansah, sie befürchten mußte, daß wieder etwas schlimmes geschehen konnte, und ihn fragte, um ihm zu helfen, was los sei. Dabei brach es aus ihm heraus „und dann bohrt und bohrtsie in mir herum, obwohl sie genau weiß, was mit mir los ist, und dann streite ich alles ab!“ Er und der Amokläufer müssen wohl Mütter gehabt haben, die voll überzeugt waren, ihrem Kind die Übeltaten anzusehen. Die Kinder übernahmen die Überzeugung und sahen dies in die spätere Umwelt hinein.

Ein Patient war mit einer Thailänderin verheiratet, deren Tochter aus 1. Ehe in Thailand in einem Geldverleih arbeitete. Sie schilderte, in Thailand würden die Geldverleihe wie Pilze aus dem Boden sprießen, weil alle Leute sich Geld leihen, um sich mit Gold zu behängen – weil man schließlich Geld auf der Bank nicht sehen könne. Sie zeigen also das, was sie nicht haben, und je mehr sie zeigen, desto weniger haben sie. Der äußere Schein und das Image gelten mehr als das innere Sein. Komischerweise erlebte die Konjunktur in Südostasien bald nach dieser Mitteilung einen starken Einbruch, vielleicht als Folge, daß viele über ihre Verhältnisse gelebt haben. Aber auch in unseren Breiten stürzen sich viele in Schulden, um sich im digitalen Dialog lebend äußere Geltung zu verschaffen zur Kompensation ihrer Entwertungen. Für sie ist nach ihrem Weltbild der Offenbarungseid eine um so größere Schande.

In allen Fällen sehe ich in der Bloßstellung ihrer Überzeugungen, ihres naiven kindlichen Glaubens, der automatischen und unreflektierten Übernahme des Glaubens des Umfeldes und somit mangelnden Souveranität, eine noch größere Scham und Lächerlichkeit. In der Realität wird ja auch oft gelacht, so daß viele, um so mehr, je stärker sie traumatisiert sind, mit allen Mitteln um die Wahrheit ihrer Ansichten kämpfen müssen. Deswegen lassen sich Phobiker etwa nur schwer von der Wahrheit ihrer Ängste abbringen, verteidigen diese oft militant. Es kann in einer Therapie nur vorsichtig oder gar nicht an die Hintergründe herangegangen werden. Eine Darstellung der neurobiologischen Zusammenhänge kann ein hilfreicher Zugang sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten sein. Dabei vertrete ich nicht die Ansicht, daß die Lebenseinstellungen in der Anlage, den Genen einprogrammiert sind, sondern während der Entwicklung in den Neuronen engrammiert werden. Aus dieser Perspektive sehe ich wesentliche bessere Veränderungsmöglichkeiten, wenn auch viele Menschen ziemlich unabänderlich festgelegt sind. Aufgrund der Bedrohungserfahrungen und seiner Engramme kann man sich wirklich fragen, ob der Mensch nicht seinem Schicksal ziemlich ausgeliefert ist und wenig und gar keine Entscheidungsgewalt über sich hat, da die Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse automatisch und unbewußt ablaufen. Krankheiten werden so als Schicksal begriffen. Bei der Rechtssprechung ist die Verantwortung sehr in Frage zu stellen.

Posttraumatisches Belastungssyndrom

Inwieweit katastrophale Erfahrungen sogar bei einem Erwachsenen wie mit einem Hammerschlag oder Keil als unauslöschliche Erinnerungen in die Neurone eingepreßt werden, möchte ich am sogenannten Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) veranschaulichen. Die Amerikaner haben diesen Begriff nach ihren Erfahrungen mit Vietnamkriegsveteranen geprägt. Ähnliche Erfahrungen und Berichte liegen von KZ-Überlebenden, über Jahrzehnte dokumentiert von norwegischen Kriegsgefangenen und inzwischen von vielen Natur-, Unfallkatastrophen, Kriegen, Folteropfern usw. vor. Und nicht nur die existentiell Bedrohten, auch Helfer und Augenzeugen erleben ähnliche Folgezustände. Das Erlebte preßt sich derartig stark ein, daß es über Jahre und Jahrzehnte immer wieder in so genannten Flashbacks erlebt wird und in ähnlichen, daran erinnernden Situationen, den so genannten Triggersituationen wieder auftaucht und einen so breiten Raum einnimmt, daß es wenig Raum für andere Erlebnisse läßt. Die Veränderungen im Gehirn und als Folge die hormonellen und immunologischen Parameter sind ebenfalls beschrieben. Der erlebte Schrecken wird zu einem weiteren Schrecken für weite Teile des Lebens, da er in allen möglichen Situationen unkontrolliert auftaucht. Soziale Störungen und Krankheiten über die gesamte Krankheitspalette sind die Folge. Zentral wichtig erscheint mir, das nicht nur bestimmte psychische und psychosomatische Krankheiten die Folge sind, sondern ebenso soziale Störungen und körperlicher Erkrankungen, die man ansonsten in ganz anderen Zusammenhängen und Ursachen sähe.

Gerade in der Anfangszeit der Entdeckung des PTBS hatten die Traumatisierten mit der Ignoranz und Unwissenheit des Umfeldes, der begutachtenden Psychiater, den Arbeitgebern, Versicherungsanstalten und Krankenkassen und derer, die sich auf den " gesunden Menschenverstand " beriefen, zu kämpfen. Etwa konnten norwegische Gutachter und Psychiater sich nicht vorstellen, daß frühere katastrophale Erfahrungen sich derartig massiv in Körper und Geist etablierten.

Bei der Entwicklung des PTBS ist wohl auch entscheidend, ob die Traumatisierung auf eine stabile, ausgeglichene Persönlichkeit trifft oder auf eine Persönlichkeit, die schon in ihrer Entwicklung traumatisiert ist. Deswegen entwickeln nicht alle Menschen in gleicher Weise Folgesymptome.

Die erlebten Katastrophen bilden die Matrix für das spätere Erleben als Voraussetzungen und Erwartungen. Die Katastrophen werden in alle möglichen Situationen hineingesehen, vor allem dort wo Ähnlichkeiten oder Parallelen bestehen. Es besteht also eine katastrophale Sichtweise späterer Ereignisse und Situationen, die im Spiegel früherer Erfahrungen aufgefaßt werden. Bei vielfältigen Traumatisierungen kann sich ein Assoziationskette des bedrohlichen Zukunftsentwurf entwickeln. Diese Auffassungen könnte man Dramatisieren, stärker Katastrophisieren nennen. Im Volksmund werden aus Mücken Elefanten gemacht. In der Generationsfolge und Tradition werden diese Auffassungen der Wahrnehmung des Lebens weiter vermittelt und übertragen sich so in abgeschwächter Form auf die Nachfolgegenerationen. Ein katastrophales Erleben der Gegenwart und der Zukunftsentwurf kann also seine Ursachen in den Erfahrungen früherer Generationen haben. Dabei ist illusorisch und irreal, daß diese Erfahrungen mit Vernunft oder dem gesunden Menschenverstand beherrscht werden können, sondern gerade durch die Neurobiologie wird deutlich, wie beherrschend sie für die Zukunft sein können.

Eine Form der Verhinderungsstrategie etwa katastrophaler zukünftiger menschlicher Zerwürfnisse, kann die Errichtung von Regeln, Normen, Prinzipien und Moral bis in die idealisierte Form sein. Diese sind um so rigider, je negativere Erfahrungen bestehen und je größere Katastrophen antizipiert werden. Die Gründe liegen also in den Erfahrungen früherer Generationen. Die Normen mögen für heutige Verhältnisse völlig inadäquat sein. Sie engen die Freiheit, Selbstbestimmung und Entfaltung späterer Generationen rigide ein und können selbst somit eine weitere Katastrophe darstellen. Vor allem das Übertreten der Regeln kann zu einer weiteren Katastrophe in Form der Bestrafung und erneuten Strafritualen führen.

Die Selbstbestimmung scheint mir ein autochthones in der menschlichen Anlage begründetes Bedürfnis zu sein. Stärkere Einengung der Autonomie provoziert dementsprechend Handlungen zur Erhaltung der Autonomie. Dann findet ein Kampf um Normen und Selbsterhaltung statt, in der frühen Kindheit die Trotzphase, später Trotz, Verweigerung, Sabotage. Der Kampf um Selbst- und Fremdbestimmung kann zu einer weiteren Katastrophe führen. Bei weitgehender Übernahme der Fremdbestimmung, etwa einem Falschen Selbst, kann der Rest der Selbstbestimmung etwa in Krankheiten oder dissozialen Störungen liegen. So liegt der Rest des Selbst etwa bei einer Magersüchtigen bei der Nahrungsverweigerung bis zum Tode, bei einem Schizophrenen beim unbewußten Verweigern sämtlicher sozialer Kompetenzen oder einem Herzkreislauf- und Alkoholgefährdetem unmäßig zu fressen, saufen, rauchen und einem Bewegungsmangel entgegen allen gutgemeinten Ratschlägen von Ärzten, Gesundheitsbüchern und Familienangehörigen. In Familien mit z.B. psychosomatisch Erkrankten wird nach Selvini-Pallazoli beschrieben, daß einer die Norm vorgibt und die Anderen diese unterlaufen, sodaß die gesamte Familie blockiert ist und zu gar nichts kommt.

Durch das Handeln nach von außen kommenden fremd auferlegten Gesetzen um, der Heteronomie, und des Protestes und der Verweigerung, ist der Blick auf das eigene Wohlergehen blockiert. Dort besteht Blindheit. Das Subjekt und der soziale Kontext sind im Kampf um Heteronomie und Autonomie verstrickt. Es geht oft nur noch darum, wer recht hat, und nicht mehr darum, was für den Einzelnen sinnvoll und erfolgsversprechend ist. Dazu ein Beispiel: Wenn etwa eine Mutter ihrer Tochter einem bestimmten Mann auszureden versucht, daß er nicht der für sie geeignete sei, wird die Tochter versuchen, den Gegenbeweis zu erbringen und weniger selber überprüfen, ob dieser der für sie geeignet ist. Durch das Einwirken der Mutter wird sie an diesem festhalten, auch wenn dieser schon lange nicht mehr für sie richtig sein sollte. Weiterhin sieht ein gegen die Fremdbestimmung und für die Selbstbehauptung Kämpfender nicht, das er selbstbestimmt dieselben Anforderungen oft genug freiwillig gerne erfüllen würde. Dazu ein Fallbeispiel: Eine Frau mit Ganzkörperschmerzen, überwiesen von einem Orthopäden, suchte mich auf. Sie wollte von mir eigentlich nur hören, daß die Schmerzen nicht psychisch bedingt seien. Im Verlaufe des Gespräches erzählte sie mir einiges über ihren Hintergrund. Sie hatte ihren Mann gegen den Willen ihre Eltern geheiratet und hätte sich, nachdem die Kinder groß sind, am liebsten von ihm getrennt. Wenn sie klagte, hielten ihr ihre Kinder und ihr Mann vor, sie solle sich zusammenreißen, so wie sie diese erzogen hatte. Aber sie stand noch immer mit ihrer Mutter, die weit entfernt lebte, in einem Kampf, daß ihr Ehemann der Richtige für sie sei. Zu einer Therapie war sie nicht motiviert. Später hörte ich von einem Neurologen, den sie aufgesucht hatte und den ich kannte, daß sie im richtig leid täte, weil sämtliche Berührung für sie schmerzhaft sei.

Kindliche Traumatisierungen

Das PTBS betrifft oft erwachsene Menschen und weist auf die Plastizität des Erwachsenenhirns hin. Auch im späteren Leben können Engrammierungen stattfinden. Je tiefer diese sind, desto intensiveren und länger anhaltend sind die Auswirkungen. Ich habe das PTBS als Beispiel angeführt, um auf die gravierenden Langzeitfolgen von Traumatisierungen hinzuweisen. Um so intensiver müssen die Langzeitfolgen von Traumatisierungen sein, wenn sie auf ein nicht geprägtes kindliches Gehirn treffen. Es fehlt ein Geflecht von anderweitigen Erfahrungen, die sich kompensatorisch und ausgleichend auswirken können.

Weniger spektakulär, auffallend und unbemerkt sind die alltäglichen Prägungen durch alltägliche Ereignisse und die Vorbilder und Verhaltensweisen des prägenden Umfeldes. Der Übergang von Traumatisierung zu alltäglichen und unspektakulären Prägungen ist fließend. Beispiele von Traumatisierungen könnensein, längeres sich selbst überlassen eines Kleinkindes etwa verbunden mit ungehörtem Geschrei, Vernachlässigung, starke Schmerzen und Erkrankungen des Kindes, Mißhandlungen, sexueller Mißbrauch, starke Schmerzen und Krankheiten, aber auch starke Gefühle und Befindlichkeiten der Primärpersonen, deren Drohungen, negative Prophezeiungen und Schlägen und Verurteilungen, bedrohlicher Liebesentzug, hauptsächlich der Mutter als der hauptanwesenden Bezugsperson, die auf das Kind übergehen und sich in seinen Neuronen einprägen. Im Falle des sexuellen Mißbrauchs ist nachgewiesen, daß bei einem Jugendlichen die fraglichen Hirnstrukturen denen eines 70-jährigen entsprechen. Derartige Befindlichkeiten können etwa starke Depressionen, Aggressionen, Schuldgefühle, Sorgen und Ängste der Mutter sein. So kann die Depression oder Aggressionen der Mutter zu der des Kindes werden.

Im Folgenden möchte ich ein Beispiel aus meiner Praxis bringen, inwieweit die Befindlichkeit der Mutter auf das Kind im Mutterleib und in der frühkindliche Phase übergehen kann. Ein Patient mit schweren Ängsten schilderte mir, daß seine Ehefrau während der Schwangerschaft mit den ersten beiden Kindern wegen Blutungen im Bett gelegen hatte und der Muttermund zugenäht worden war (Cirklage). In der dritten Schwangerschaft fingen die Blutungen wesentlich früher und stärker an, und es war mit Sicherheit anzunehmen, daß das Kind abgehen würde. Ich überlegte mir die Zusammenhänge, fing etwas rätselhaft von Freud und von der Ambivalenzen gegenüber dem Kind, weshalb dieses wegen der Vorteile willkommen und wegen der Nachteile (wie Mühe, Pflege, Einengung der Freiheit) unwillkommen sei, zu sprechen. Der Patient sprach anschließend mit seiner Frau darüber, diese war froh, endlich einmal über ihre Aggressionen auf die Kinder sprechen zu können, und oh Wunder, die Blutungen standen still und das Kind kam normal zur Welt. Ein halbes Jahr später sprach der Patient zögernd über ein Problem, sein Kind habe eine Neurodermitis entwickelt, sie hätten schon mehrere Ärzte aufgesucht, geschmiert und gesalbt, aber alles habe nicht geholfen und es werde nur noch schlimmer. Er schilderte mir das zukünftige grausame Leben seines Kinder in den blühensten Farben. Seine Aufregungen, Spannungen, Sorgen und Ängste waren ihm deutlich anzumerken. Wiederum überlegte ich mir die Zusammenhänge und schilderte ihm, wenn ein Mensch unter starken Spannungen, Ängsten und Sorgen stehe, übertragen sich dies auf andere Menschen, um so intensiver auf ein Kleinkind, daß irgendwie reagieren müsse, in diesem Fall mit der Haut, dem Grenzorgan zur Umwelt. Ich schlug ihm vor, sich das zukünftige Schicksal des Kindes nicht so sehr zu eigen zumachen (für viele Mütter unvorstellbar), Kind Kind sein zulassen, sich nicht mehr aufzuregen und am besten gar nichts zumachen. Als Folge war die Neurodermitis sozusagen erledigt, natürlich nicht ganz, da dieser Patient und seine Ehefrau weiterhin zur Ängsten, Schuldgefühlen und Sorgen neigten. Dies Beispiel kann auch zeigen, wie wenig manchmal dazu genügt gehören, potentiell Krankheit und Tod zu verhindern.

Diese Eltern handelten nach bestem Wissen und Gewissen, wobei in dem Wort Gewissen das Wort Wissen steckt. Sie wußten es nicht besser. Wahrscheinlich waren ihre Sorgen und Ängste ein Spiegel derer ihrer Eltern. Dies Beispiel kann zeigen, wie das Wissen um die Hintergründe und Zusammenhänge heilend sein kann. Vielen Eltern kann dies aber nur begrenzt helfen. Für sie paßt das "Sich nicht Sorgen machen " um das Wohl ihrer Kinder nicht in ihr Weltbild. Sorgen ist für sie Fürsorge, Kinder übernehmen dieses bild und glauben, nur wenn sich um sie gesorgt wird, sei das Fürsorge.

Typische Konfliktkonstellationen

Problematische Konstellationen finden sich vor allem nach engrammierten Bedrohungserfahrungen. Die Bedrohungen können körperliche Ängste sein wie vor Krankheit, Tod, Krieg, überhaupt Verlustängste, oder narzißtische Ängste wie Herabsetzung im Wert, Erniedrigung, Demütigung in Scham, Schande, Sünde, Schuld, Blamage und Lächerlichkeit. Oft wird auch zwischen körperlichen Bedrohungen und seelischen, narzißtischen Bedrohungen nicht unterschieden. Körperliches Leid bedeutet seelisches Leid, und seelisches Leid körperliches Leid. Außerdem geht die Differenzierung der Positionen, Blickwinkel und Interessen, zwischen den einzelnen Personen verloren.

In diesem Fall ist das Hineinversetzen in andere Personen, die sogenannte Empathie, nicht möglich. Die Empathie wird dann nicht als mögliche Vorgänge und Befindlichkeiten im anderen gesehen, es kann aber auch anders sein, als ich es von mir selbst kenne, sondern als Wissen von den Vorgängen im anderen erlebt. Die Mutter weiß alles, was in ihrem Kind vor geht und wie es ihm geht, und verhält sich nach diesen Annahmen bzw. Wissen. Falsches Wissen führt zu verändertem Verhalten der Mutter und verändertem Verhalten des Kindes. Die Folge ist, alles wird gemeinsam erlebt, die Gemeinsamkeit in Familien, Gruppen und Kulturen. Unterschiede im Erleben, auf dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen werden nicht wahrgenommen. Die Tragik ist, daß die engrammierten früheren Erfahrungen im späteren Leben ähnliche wie in den Triggersituationen beim PTBS immer wieder erwartet und in viele Situationen hineingesehen werden. Die Folge ist, daß die Handlungen und Aussagen des Umfeldes immer wieder nach dem früheren Muster erlebt werden und sich danach verhalten wird.

Normalerweise verbinden Eltern mehr oder weniger sich selbst mit ihren Kindern, mit ihren Wünschen, Zielen und Antizipationen. Sie erleben sich in einer Gemeinsamkeit. Wie bereits mehrfach erwähnt, findet im Zustand der Bedrohung immer weniger eine Differenzierung, also zwischen sich selbst und den Kindern statt. Insofern betrachten sie ihre Kinder als einen Teil ihrer selbst. Begriffe sind etwa narzißtische Besetzung, Selbstobjekt oder projektives Selbst. Alles oder vieles von dem, was sie selbst betrifft, finden sie im Kind wieder. Das Kind wird sozusagen zum Behälter für die Wünsche und Traumata der Eltern. Es findet also eine Umkehrung einer gelungenen Prägung statt, wo die Eltern einen Behälter für die Ängste und Probleme des Kindes darstellen. Das Kind kommt auf die Welt, um sein eigenes selbstbestimmtes Leben zu leben und es wird ihm auferlegt, aufoktroyiert, übergestülpt, vorgeschrieben und tabuisiert, sodaß es schließlich ein fremdes Leben lebt, das zu seinem eigenen wird. Diese narzißtische Besetzung kann je nach Art der Bedrohung verschiedene Schicksale erfahren. Einige Beispiele habe ich ja schon weiter oben angeführt.

Häufig ist, falls die Mutter bzw. die Eltern in sich negative Bewertungen sehen, daß sie diese negativen Selbstanteile in dem Kind wieder finden. Sie trennen nicht mehr zwischen sich und dem Kind. Oder die Mutter fürchtet alles in dem Kind, was ihr selbst geschehen ist, etwa ihre Krankheiten, Schande und Blamage wie die eines unehelichen Kindes. Die Sorge um sich selbst ist also die Sorge um das Kind. Dann ist es meist Aufgabe sowohl der Mutter als auch des Kindes, da es die bilder der Mutter übernimmt, sich selbst und die Mutter vor ihren Sorgen und ihrem Kummer zu schützen, also sich so zu verhalten, daß die Mutter sich keine Sorgen macht und es selbst sich nicht schuldig fühlen muß. Der Schutz für die Mutter ist also sein eigener Schutz, wodurch beide eng miteinander verbunden und verwoben sind. Ihr eigenes Versagen kann sie im Versagen des Kindes wieder finden. Psychoanalytiker sprechen von dem Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung. Dieser Mechanismus geschieht in intimen und nahen Beziehungen wie Eltern-Kind-Beziehungen oder auch Partnerbeziehungen. Die Mutter handelt nach ihren inneren bildern von sich und denen ihres Kindes bzw. behandelt das Kind, wie es glaubt, wie dieses ist. Das Kind identifiziert sich mit den Selbstanteilen der Mutter, den Projekten..

Dabei findet oft eine Aufspaltung statt, wenn die Mutter ihre bösen Anteile im Kind untergebracht hat und sie von ihnen sozusagen gereinigt ist. Dann ist das Kind das Böse, und die Mutter die Gute. Sie wird als gute Mutter alles tun, um das Kind vor dem Bösen zu beschützen. Die Geschichte geht weiter und verkompliziert sich. Gleichzeitig identifiziert sich das Kind mit der guten Mutter, wobei es wiederum auf der anderen Seite das Böse ist, sodaß es in ein inneren Zwiespalt zwischen gut und böse gerät. Zur inneren Fusion des Selbstbildes möchte ich als Beispiel die Aussage einer Patienten bringen, die mitteilte " Sie leide darunter, daß ihre Mutter glaube, daß ihr Leben (das der Patienten und nicht der Mutter ) verpfuscht sei“. In meinem Klammerzusatz wird schon deutlich, um wessen Leben es eigentlich geht. Die Projektion böser eigener Anteile kann zur Stabilisierung des Projizierenden und zur Destabilisierung des Empfängers wie in einer Mutterkindbeziehung führen. Da das Kind diese Mechanismen von der eigenen Mutter erlernt, wird es mit diesen Mechanismen antworten, sich selbst als das Gute sehen und das Böse in die Mutter projizieren. Als Folge kann es also der Mutter dasselbe Leid zufügen, das ihm zugefügt wurde. Auch verhält es sich nach dem, was es glaubt, wie es ist, verstrickt mit der Mutter in guten und bösen bildern, sodaß kaum noch zu unterscheiden ist, um wen es sich handelt.

Da der Mensch nach seinen eingeprägten bilder lebt, wird die Verstrickung und Aufspaltung in gut und böse fortgelebt. Eine gute Frau wird sich einen bösen Mann suchen, oder umgekehrt, das Gutsein fortleben und das Böse an ihn delegieren, um sich selber als Gute wahrzunehmen und vom Bösen abzugrenzen. Beide gehören untrennbar zusammen, jeder übernimmt den Teil des anderen und lebt ihn aus. Gute und böse Anteile können nicht auf beide Personen verteilt sein, wie es realitätsgerecht wäre. Oft ist diese Situation klar und eindeutig mit klarer Rollenverteilung, oft findet ein Rollenwechsel statt oder ein Kampf um gut und Böse. Bei der Partnererfindung geht das natürlich nur, wenn der andere dies mit macht. Er wird verführt und muß sich verführen lassen. Kommt es aus irgendeinem Grunde doch zur Trennung, muß das Rollenspiel beim nächsten Partner fortgesetzt werden, da der erstere ohne einen wesentlichen Teil seiner selbst bloß und unvollständig dastehen würde.

Diese elterliche-kindliche Gemeinsamkeit führt dazu, das das Kind oft auch in der Weise (narzißtisch) selbstbesetzt ist, daß es die Ziele im Leben erreichen soll, die die Mutter selbst nicht erreicht hat, etwa typisch bei den sogenannten Eislaufmüttern. Dabei kann es passieren, daß die Mutter ihr Kind drangsaliert und zu Leistungen peitscht, die oft nicht die Ziele des Kindes und völlig altersinadäquat sind. Das Kind nimmt alles in sich auf, gerät in einen Zwiespalt, wobei es sich einerseits bemüht, die Ziele der Mutter, die inzwischen die eigenen Ziele geworden sind, zu verwirklichen, andererseits neigt es zur Aufrechterhaltung der Autonomie zur Verweigerung. Wenn die Mutter zu allumfassenden Sorgen neigt, kann es überall heißen " paß' auf, paß' auf ...!", " hast du an dies und jenes geachtet und bedacht, mußt aufpassen..., das und kann passieren! " und das Kind wird auf Schritt und Tritt verfolgt und kontrolliert. Dies kann zu einer Kette von Bedrohungen führen, bei der aus der einen die nächste Angst erwächst. Es kann sich so umzingelt fühlen, daß es nicht ein und aus weiß, was es machen soll. Es steht unter unaufhörlichen Ängsten und Spannungen und neigt zu Krankheiten. Ein derartig Kranker wird sich kaum den Inhalten seiner Ängste stellen können, weil aus jeder Angst eine Neue erwacht.

Selbstverständlich will der Mutter nur das Beste für das Kind und handelt nach dem in Ihren Augen Besten. Die Interessen der Mutter, sich keine Sorgen machen zu müssen, laufen an den Interessen des Kindes nach einem unbeschwerten Leben vorbei.

Die Selbstbesetzung kann so weit gehen, daß es einer Mutter, deren Kind gestorben ist, vorkommt, als ob sie selber gestorben sei. Aufgrund der vergangenen Erfahrung wird sie den Tod anderer Kinder fürchten und alle Mittel einsetzen, um diese Bedrohung zu verhindern. Die Übertragung der mütterlichen Spannungen und Ängste ist meiner Ansicht nach ein wesentlicher Auslöser bei der Neurodermitis.

Aber nicht nur aktuell steht es unter Spannungen, sondern diese prägen sich ein und werden zu Spannungen und Maßstäbe für das späteren Leben. Das Eingeprägte und Verinnerlichte wird zu einer Angst für die Zukunft. Die Inhalte der Zukunftsängste sind also vergangene Erfahrungen, nicht nur des Kindes, sondern auch der Mutter, die sich über Generationen übertragen haben können. Eine spannungsvolle Kindheit wird so zu einem spannungsvollen Leben.

Eltern, die das bild einer feindlichen Umwelt haben und sich selber wehrlos fühlen, leben diese Verhaltensweisen selber ihrem Kind vor, erwarten aber oft, daß diese erreichen, was sie selber nicht hinkriegen. Dann erfolgt die Botschaft oder der Auftrag " du mußt dich wehren, durchsetzen! ". Sich wehren und durchsetzen heißt dann oft, recht zu haben, die Oberhand zu gewinnen, den andern zu beherrschen, jedenfalls nicht, den Standpunkt anderer anzuerkennen und einen Konsens zu suchen. Konflikte eines Kampfes um Sieg und Niederlage sind vorprogrammiert. Einerseits bekommt das das Kind nicht die Hilfsmittel mit, sich zu wehren, andererseits muß es etwas erreichen, wozu es nicht in der Lage ist. Es gerät in einen tiefen inneren Zwiespalt und in eine hilflose Situation, deren Ursachen und Auswirkungen es nicht kennt.

Oft werden frühere Personen und die Vorerfahrungen mit diesen in die eigenen Kinder hinein gesehen. Dann sehen die Eltern in ihren Kindern Anteile ihrer eigenen Eltern oder anderer früherer Bezugspersonen und dann heißt es "du bist wie der Opa oder die Oma, die Tante... oder der Onkel... " und die Kinder werden nach diesen Vorbildern behandelt. Die Kinder übernehmen diese Überzeugung in ihr Selbstbild und verhalten sich oft im Widerspruch zu ihrer eigenen Person wie diese Primärpersonen. Dazu das Beispiel eines Psychotikers, der bei mir in einer Gruppe saß. In meinem bild verhielt er sich nicht wie sein Opa, sondern er war sein Opa. Dann haben die Eltern sogar recht gehabt, und fühlen sich bestätigt. Da es sich normalerweise um negativ erlebte Personen handelt, müssen sich die Kinder gegen diese negativen und entwertenden Unterstellungen und Zuschreibungen wehren, während sie gleichzeitig daran glauben, und so in einem inneren Zwiespalt geraten. Insofern taucht der Geist früherer Bezugspersonen als Geist in den nächsten Generationen auf, etwa wie die Untaten eines Vorfahren als Schloßgespenst ruhelos weiter leben.

Oft findet zwischen den Kindern eine Aufspaltung statt. Dann sehen die Eltern von früheren Bezugspersonen die guten Eigenschaften in das eine und die schlechten Eigenschaften in das andere Kind hinein. Das eine wird in den Himmel gepriesen, bevorzugt und das andere entwertet. Das Entwertete sieht sich in einer benachteiligten Position und muß Neid gegenüber dem Gepriesenen empfinden und ihn bekämpfen. So kann dauerhafter Streit zwischen den Geschwistern entstehen. Außerdem muß der Entwertete um Anerkennung kämpfen und werben bei den Eltern. Da diese aber oft weiterhin das Negative sehen, ist die Werbung erfolglos und wird schlecht gedankt. Ein gutes biblisches Beispiel ist das von Kain und Abel.

Weiterhin verhalten sich beide Kinder nach ihren verinnerlichten Bewertungen. Der Entwertete verhält sich wertlos und rechtlos und der Überbewertete nach seinen bildern von übermäßigen Wert und Rechten. Sein Verhalten ist im primären Umfeld adäquat, aber in einem späteren Umfeld erscheinen seine erhöhten Ansprüchen unangemessen und fallen negativ auf. Insofern kann sich eine Überhöhung im späteren Umfeld tragisch fortsetzen. Das beste Beispiel ist in der Bibel Jesus Christus, der zum Gott hoch jubelt und gekreuzigt wurde. Auch in der Primärfamilie muß er gegenüber den erhöhten Ansprüchen bestehen und das Versagen befürchten. Normalerweise richtet sich die Wut und der Hass nicht gegen die Eltern, sondern es entsteht Streit zwischen den Geschwistern. In der alttestamentarischen Bibel erschlug Kain nicht den Vater, sondern seinen Bruder Abel. Auch zeigt dieses Beispiel, daß in einem tragischen Geschehen, an dem mehrerer beteiligt sind und das im Grunde für alle Beteiligten peinlich ist, die Scham in Schuld überführt wird, die an einem fest gemacht wird. Die Schuld gilt zur Entlastung von der Scham.

Wenn das Kind sich unsicher und bedroht fühlt, etwa ihm etwas etwas schmerzhaftes passiert ist, sucht es Sicherheit, Trost und Geborgenheit im Umfeld, hauptsächlich bei der Mutter. Reagiert diese auf die Inhalte der Bedrohung ebenfalls bedroht, werden die Ängste des Kindes verstärkt. Es findet also statt Sicherheit Unsicherheit und Angst. Passiert dies mehrfach, kann es sich in seinen Ängsten nicht mehr an die Mutter wenden, weil diese seine Ängste noch verstärkt, und wird versuchen, alleine damit fertig zu werden. Eine vermehrt ängstliche Mutter ist also für das Kind wie ein Wegstoßen. Häufige Sprüche sind " reiß’ dich zusammen ". Die Bedrohung kann im Umfeld liegen, aber häufig ist die Mutter selbst der Grund der Bedrohung und des Schmerzes, weswegen es um so weniger bei der Mutter Trost finden kann. Aus der Sicht des Verhaltens des Kindes darf dieses nichts machen, das die Mutter erschreckt, weil es selbst um so mehr erschreckt. Dies kann sich zu einer Spirale gegenseitigen Erschreckens hoch schaukeln. Derartige Kinder neigen dazu, nach außen frühzeitig selbstständig zu werden und können nur unzureichend den kindlichen Reifungsprozeß durchlaufen, wo sie mit der verinnerlichten Geborgenheit und Sicherheit die Umwelt erkunden können.

Eine Mutter, die unter schweren Ängsten steht, kann natürlich keine Freude an der Entwicklung ihres Kindes haben. Sie sieht in dem Kind das Wiederaufleben ihrer alten Bedrohungen und ist voll mit den Ängsten und Verhinderung ihrer Ängste beschäftigt. Das Kind wird zur Last. Auf diese Last entwickelt sie massive Aggressionen, vor allem wenn sie sich in der Verhinderung ihrer Ängste aufopfert und das Kind sich dagegen wehrt. Ist ihr Leben eine Plage etwa mit dem Haushalt, dem Putzen und Aufräumen, wird sie kaum Wohlbefinden des Kindes zulassen können. Sie wird in vielem eine Bedrohung sehen, etwa wenn das Kind genüßlich Daumen lutscht, wird sie Gefahren sehen. Man könnte dahinter Neid sehen. Vor allem neue Schritte des Kindes sind von Ängsten bedroht, dann heißt es "freu’ dich nicht zu früh, das dicke Ende kommt noch " u. ä. Expansionsschritte sind für das Kind somit bedrohlich und werden versucht zu vermeiden. Dies ist oft der Hintergrund von Schulängsten, von Kopfschmerzen und Übelkeit vor der Schule. Dabei spielt naturgemäß die unterdrückte Wut des Kindes auf die Mutter, die es bei einer wohlmeinenden Frau, die nur das Beste für es will, nicht herauslassen kann bzw. dies zu harten Konsequenzen führt, eine Rolle.

Oft gerät ein Kind in familieninterne zwischenmenschliche Konflikte, etwa wenn die Mutter in die Familie des Vaters eingezogen ist und sich ein Rivalitäts-, Loyalität- oder Beziehungskonflikte abspielt, auf wen der Vater mehr bezogen ist, auf seine Mutter, also die Großmutter des Kindes, oder auf seine Frau. In diesem Zwiespalt entsteht oft eine zerstrittene, erstickende Atmosphäre, auf die ein Kind häufig mit Allergien bis zum Asthma reagiert. Dann stellt das Kind sozusagen ein Blitzableiter dar, auf den ich alle stürzen, um es zu retten. Diesen Sachverhalt stellte ich einmal einem Bekannten, einem früheren Asthmatiker, dar, und er meinte bitter "und als sie es geschafft hatten, lagen sie sich glücklich in den Armen ". Somit wurde das Familienglück auf Kosten des Kindes wiederhergestellt. Weiterhin kann das Asthma mit den unterdrückte Aggressionen des Kindes zu tun haben, an denen es sozusagen erstickt. Gleichzeitig kann es in einer feindlichen, kalten Atmosphäre den Schrei nach einer guten, warmen Mutter bedeuten, die es wiederum durch die sorgenvollen mütterlichen Bemühungen erhält. So sagte einmal ein Kind nach der Heilung von Asthma "aber schön war es doch!"

Typische und häufige familieninterne Konflikte treten auf, wenn das Kind etwa an die Oma zur Versorgung abgegeben wird. Das passiert oft, wenn die Mutter arbeiten geht und die Oma tagsüber zuständig ist. Da das Kind dem Einfluß der meist anwesenden Personen ausgesetzt ist, hört es auf die Oma mehr als auf die Mutter. Die Mutter tritt zwangsläufig in das zweite Glied und ist oft genug gekränkt. Sie ist nicht mehr wichtig. Oft spielt sich ein Kampf um den Einfluß ab. Die Aggressionen der Mutter kriegt normalerweise das Kind ab. Verstärkt gekränkt ist sie, wenn dann das Kind zu Oma geht und sich dort Sicherheit und Stärkung holt. Bei Ausländern wie Türken habe ich wiederholt erlebt, daß die in Deutschland geborenen Kinder jahrelang an die Eltern und die Familie in der Türkei gegeben wurden und nach ihrer Rückkehr ihre Eltern nicht mehr anerkannten und folglich von diesen nicht anerkannt wurden. In solchen Fällen, aber auch bei Deutschen läuft oft ab, daß die Mütter bzw. die Eltern zu ihrer eigenen Loslösung stellvertretend ein oder ihre Kinder der Großmutter übergaben oder zurücklassen. So sehr fühlen sie sich für das Wohl ihrer Eltern oder Mutter verantwortlich, daß sie ihr eigenes Kind opfern. Im Alten Testament bot Abraham Gott seinen Sohn Isaak an. Die Tragik für das Kind ist, daß es seine Mutter und die Mutter ihr Kind verliert. Wächst das eine Kind bei der Mutter, das andere bei der Großmutter auf, fühlt sich eines von beiden benachteiligt und ungerecht behandelt. Die Abgabe des Kindes kann Familientradition sein und die Konflikte werden vererbt.

All die geschilderten problematischen Konstellationen treten nur auf Bedrohungshintergründen der prägenden Bezugspersonen auf. Sind diese ausgeglichen, fühlen sich narzißtisch anerkannt und sicher und nicht vom Umfeld bedroht, können sie Ihre Befindlichkeiten weitervermitteln, Unterschiede anerkennen und Empathie empfinden. Vor allem können sie unterschiedliche Entwicklungen des Kindes zulassen und fördern, also einen autonomen Lebensweg.

Sexualität und Erotik ist als menschliches Grundbedürfnis in vielen Kulturen, siehe oben bei der Beschneidung, aber auch in unserer Kultur ein besonders konfliktträchtiges Kapitel. In manchen Bereichen unserer Kultur ist überhaupt sämtlicher Genuß verboten und wird bestraft. Sigmund Freud hat die sexuellen Bedürfnisse des Kindes an die Eltern beschrieben. Ich sehe allerdings darin mehr ein Grundbedürfnisse nach körperlicher Zuwendung und Wärme. Für wichtiger halte ich im Falle der gestörten Partnerbeziehung, starker Bindung an den Partner und dadurch mangelndem Freiheitsraum, sich etwa Partner außerhalb der Ehe zu besorgen, daß sich sexuellen Bedürfnisse an andere Familienmitglieder, oft die Kinder wenden. Dies führt zu sexuellem Mißbrauch. Grundlage ist für mich etwa, daß etwa aus Verlustangst nicht aus der Familie herausgetreten werden kann. Seitensprünge und Partnerwechsel sind oft nicht möglich. Deswegen wird der sexuelle Mißbrauch oft von den Müttern gefördert, einmal durch Verleugnung, manchmal sogar, daß die Mutter ihren Mann sogar offen zur Tochter hinschickt, wenn er etwas von ihr will. Dann fühlen sich die Töchter von ihren Müttern im Stich gelassen, wobei die Bedrohung durch die Mutter oft auf den Vater verschoben wird, der an allem schuld ist. Die Bedrohung des sexuellen Mißbrauchs wird von allen normalerweise verleugnet und von anderen schon vermutet oder bis zur Sicherheit geglaubt, wenn gar nichts stattgefunden hat. Dazu Beispiele: Ich hatte einmal ein ca. 50 jährige Patientin, die empört über die sexuellen Bedürfnisse ihres ca. 70 jährigen Ehemannes berichtete. Wenn die Freundin ihres 18 jährigen Sohnes sich auf der Couch leicht bekleidet räkele, bekomme er Stieraugen. Wenn sie selbst ihrem Sohn in der Badewanne den Rücken schrubbe, denke sie sich dagegen gar nichts. Ein hahnebüchendes weiteres Beispiel aus meinem Bekanntenkreis: Eine Frau erzählte, ihr Vater habe sie ab 8 Jahre sexuell mißbraucht, nicht nur sie, auch ihre Schwestern und zum Teil die Cousinen. Sie habe sich zu verstecken versucht, wenn er sie rief. Andererseits sei er sofort aus dem Zimmer geschossen und habe sie verteidigt, wenn die älteren Geschwister sie angriffen. Die ewig kranke Mutter habe ihr gedroht, wenn sie so weiter mache, werde sie noch schwanger. Mit 23 habe sie von ihrem Vater schwanger geworden, hab einen Sohn geboren und sei als Mutter eines unehelichen Kindes von ihrer Familie verstoßen worden. Sie sei weit weggegangen und habe geheiratet. Als ihr Sohn heiratete, sei sie wegen Depressionen in die Klinik gekommen, und dabei seien ihr die Erinnerungen erst wieder aufgetaucht. Sie habe in der Zwischenzeit nicht mehr gewußt, daß ihr Sohn von ihrem Vater stamme.

Sexualität und Erotik sind vor allem in der nahen Eltern-Kind-Beziehung völlig tabuisiert, obwohl sicherlich gang und gäbe. Dahinter steckt die Angst vor dem lange tabuisierten sexuellen Mißbrauch. Dabei werden bilder, Phantasien mit Handlungen gleichgesetzt. Vor einigen Jahren fand ich in der Frankfurter Rundschau einen großen Artikel über die Vorliebe der Mütter für den Penis ihres Sohnes, ich meine von Michael Amendt. Sigmund Freud hat die Realitäten in meinen Augen auf den Kopf gestellt, indem er in seinem Ödipuskomplex die Liebe des Sohnes zur Mutter postulierte - sicherlich eine Fortsetzung des Tabus. Sexuelle Wünsche und erotische Phantasien etwa beim Wickeln des Sohnes, der schon mit wenigen Wochen dabei einen steifen Penis bekommen kann, können solche Ängste und erschrecken hervorrufen, daß intensivere körperliche Berührungen gemieden werden, und etwa auf den Sohn projiziert, der derartig sündige Bedürfnisse auf die Mutter habe. In mir selbst tauchte etwa, als ich meine 3 bis 5 jährigen Töchter streichelte, die Phantasie auf "nicht unter die Gürtellinie, das ist verboten!". Erst nach der Wahrnehmung dieser Phantasie konnte ich sie freier streicheln. Aus meiner Psychiatriezeit gewann ich den Eindruck, daß Alkoholiker immer dann in die Klinik eingewiesen wurden, weil sie die Wohnung demolierten, wenn ihre pubertierenden Töchter sich mit einem Jungen trafen oder tanzen gingen. Normalerweise beschimpften sie sie als Hure oder Flittchen. Dahinter steht die Projektion und Eifersucht infolge der sexuellen Besetzung.

Ein Mensch, der in seinem Selbstbild durch entwertende Zuschreibungen und Projektionen stark verunsichert ist, muß zuallererst Aufwertung und Sicherheit in seinem Selbstbild suchen. Er ist auf die Außenzufuhr von Sicherheit und Bestätigung in seinem Wert, Achtung, Würde und Wertschätzung angewiesen, je intensiver seine Entwertung, desto abhängiger, da er in seinem Inneren von Selbstzweifel bis zur -quälerei geplagt ist. Er mag sich ständig fragen, ob dieses oder jenes richtig oder falsch sein mag. Er mag ein Verhalten an den Tag legen, das nach seinen Erfahrungen und verinnerlichten Normen Anerkennung und Achtung hervorruft wie im Digitalen Dialog. In seinem Inneren ist der jedoch von der Herabsetzung seines Wertes überzeugt und muß die Bloßstellung, das Durchschauen seiner Person fürchten. Er wird sich wie ein Schauspieler, Hochstapler oder Lügner vorkommen. Er kann nicht mehr frei im Analogen Dialog leben, und das Leben wird zu einem einzigen Kampf des narzißtischen Überlebens. Wie weiter oben erwähnt, muß er gegenüber Lob, Anerkennung und Aufwertung mißtrauisch sein und kann Lob schlecht annehmen, weil dies nicht in sein Weltbild paßt. Er muß dahinter vermuten, daß der andere schlechte Absichten hat und ihn ausnutzen will. Oft geht die Tragik weiter, da Aufbau und Bestätigung die Minderwertigkeit sozusagen bestätigen. Schließlich hat er dieses nötig, weil es im fehlt. Dann mag er die Anerkennung wie ein Schwamm aufsaugen, ohne daß es ihm irgend etwas nützt.

Inwieweit Anerkennung und Achtung von den jeweiligen bildern des Gegenübers abhängen und weniger an Beurteilten festzumachen sind, erkläre ich gerne Patienten an dem Wort Sympathie. Oft ist ein Mensch einfach sympathisch oder unsympathisch. Er ist es einfach, dafür braucht er nichts zu tun. Im Gegenteil, je mehr sich der Unsympathische bemüht sympathisch zu werden, desto unsympathischer wird er. Die Beurteilung hängt von den oft unbewußten Wünschen und bildern des Beurteilenden ab. Bei einem sich klein, minderwertig und schwach Fühlenden wird ein ebenfalls klein und schwach wirkender oft Sympathie erwecken, es sei denn, er sucht Größe und Stärke, wobei erin ein innere Diskrepanz zwischen sich und dem Gegenüber gerät, weswegen die ursprüngliche Sympathie in Antipathie umschlagen kann. Die bilder für Sympathie und gleiche Wellenlänge können völlig unterschiedlich und gegensätzlich sein. Sie haben jeweils mit dem Beobachter zu tun.

Da der Mensch nach seinen eingeprägten Normen und Erfahrungen lebt, die für ihn selbstverständlich sind, und dementsprechend mit anderen Menschen umgeht, die für ihn richtig und das Beste sind, andere Menschen aber mit anderen Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten an die Beziehung herangehen, ist das Richtige oft für den anderen das Falsche, wie oben in der Beziehung von Eltern zu Kindern beschrieben. Wenn die Unterschiede nicht gesehen werden, laufen die Ziele und Ergebnisse oft aneinander vorbei. Der eine hat im zwischenmenschlichen Prozeß des Gebens und Nehmens das für ihn Richtige gegeben und erwartet die für ihn richtige Antwort, während der Andere das für ihn Falsche bekam und das für ihn richtige und für den anderen Falsche zurückgibt. Die Enttäuschungen sind vorprogrammiert" ich bin immer für die andern da und keiner ist für mich da ". Solches wie selbstverständlich aneinander Vorbeilaufen ergibt sich häufig in neuen nahen Beziehungen wie Partnererfindungen. Dies kann zu Auseinandersetzungen oder bei Unterdrückung der Enttäuschungen und resultierenden Aggressionen zur Erhaltung der harmonischen Beziehung zu Krankheiten führen. Ein oft erzählt es Beispiel ist das des alten Ehepaares, daß die von ihm geliebte Brötchenhälfte wie selbstverständlich jeweils dem Partner zuschanzt. Da beide aber jeweils die andere Hälfte besonders mögen, bekommen sie immer die falsche Hälfte. Auf die Dauer schlägt die Fürsorge in Ingrimm um, "wie kann denn der Andere nur so egoistisch sein und über viele Jahre nur an sich selbst denken!?"

Ein Kind, daß eine sich schlecht, unwohl und unzufriedene Mutter hat, muß im eigenen Interesse für deren Wohlergehen sorgen. Nur bei einer zufriedenen Mutter kann es halbwegs Geborgenheit finden. Wenn es der Mutter besser geht, geht es ihm selbst auch besser. Sind nicht andere kompensierende Bezugspersonen da, ist es von dem Wohlergehen der Mutter total abhängig. So muß es beispielsweise die Verurteilungen der Mutter akzeptieren und darf auch gegen die eigenen Interessen nicht widersprechen, um die Mutter nicht noch mehr zu destabilisieren. Im späteren Leben wird es sich nach den eingeprägten bildern verhalten. Bei anderen Menschen wird es als Erwachsener die negativem Aspekte wahrnehmen, auch wenn diese nur Teilaspekte sind, die Abhängigkeit übertragen und ständig für deren Wohlergehen sorgen - der geborene Sozialarbeiter. Unter Umständen kann das spätere Gegenüber irritiert sein, daß sich jemand ständig um seine Wohlergehen bemüht, obwohl es ihm doch gar nicht schlecht geht. Dies Verhalten kann ihm lästig werden, und er weist es zurück. Dadurch ist der "Sozialarbeiter" naturgemäß gekränkt, läßt für den Anderen völlig unverständliche Aggressionen heraus oder muß diese unterdrücken, um die gute Beziehung nicht zu gefährden und kann dadurch krank werden oder er sucht das Weite von diesem "undankbaren" Menschen. Oft genug verstärkt er seine Bemühungen, da die Reaktion des Anderen für ihn unverständlich ist, und es ergibt sich ein Teufelskreislauf von Bemühungen, Enttäuschungen und unterdrückten Aggressionen.

Bestehen in der Vorgeschichte Bedrohungserfahrungen, wird möglichst Sicherheit und Vertrautheit gesucht. Alles Neue, Ungewisse und Unsichere macht Angst und muß möglichst vermieden werden. Aus diesem Zusammenhang erkläre ich mir bei Partnerschaften und Eheschließungen im Konfliktfall die Tendenz, sich mehr auf die Herkunftsfamilie, das Vertraute, als auf die neue Beziehung und Familie zu beziehen. Die alten Erfahrungen schaffen gemeinsame Bewertungen, Bedeutungen und Richtigkeiten und erhalten Priorität. Dies spielt sich vor allem im psychiatrischen Umfeld ab. Deswegen sagte oft ein Psychiatrieprofessor " im Zweifelsfall immer für die neue Familie und den Partner". Je unglücklicher die Vergangenheit ist, desto mehr Familienzusammenhalt muß also bestehen und um so weniger kann sich auf neue Partner einlassen werden, weil diese zu fremd und unsicher wären.

Herrschaft der Mechanismen und Automatismen

Da es um die Verhinderung einer bedrohlich Zukunft geht, muß dieses auf dem kürzesten Weg, ohne zu überlegen oder ohne wenn und aber, geschehen, sozusagen reflexmäßig und automatisch. Bedrohung und Verhinderung der Bedrohungen, verschiedene Dinge, Personen und Bereiche, sind sozusagen aneinander gekoppelt bzw. werden gleichgesetzt. Diese Reflexe und Automatismen, man könnte sie auch mit den Selbstverständlichkeiten und Regeln und Normen in Verbindung bringen, gravieren sich nicht nur bei dem Individuum aufgrund von dessen Wahrnehmungen und Erfahrungen ein, sondern werden auch über Generationen eingeprägt weitergegeben. Sie gehören nach Singer in den im allgemeinen nicht wahrgenommen Wahrnehmungsbereich. Je nach Intensität und Häufigkeit der Bedrohungen und Reaktionsbildungen sind die Mechanismen und Automatismen in das Nervensystem wie in einer Matrix oder einem Mutterboden eingeprägt und wiederholen sich ständig. Damit erkläre ich mir den Wiederholungszwang nach Freud, der also aus naturwissenschaftlicher neurobiologischer Sicht gut erklärbar ist. Sie haben etwas absolutes bzw. absolutistisches an sich. Deswegen spreche ich von einer Herrschaft. Die Matrix schafft die Automatik des Erlebens und somit des Handelns, also der Automatismen und Mechanismen. Der Mensch denkt also automatisch, das was er oft genug gehört hat und immer wieder denkt, reagiert und handelt automatisch nach den alten vorgegebenen Mustern. Die Automatik ist also nicht einfach ohne weiteres auf einen Schlag abzustellen, wie von vielen illusionär geglaubt und erhofft. Daß diese nicht ohne weiteres abzustellen sind, ist bei den alten Griechen im bild der Hydra, einer vielköpfigen Schlange, bei der auf jeden abgeschlagenen Kopf viele Köpfe nachwachsen, fest gehalten. Auf die komplexen Unwägbarkeiten des Lebens wird oft mit wenigen Automatismen und Reflexen reagiert.

In einer unglücklichen, grausamen, traumatisierenden Kindheit fehlen Modelle, Vorbahnungen für ein positives Leben. Ein derartig geprägter Menschen wird eine Befürchtung nach der anderen haben, sieht überall Probleme und wird zu einer Verhinderungsstrategie nach der anderen greifen. Diese Verhinderungsstrategien sind oft das eigentliche Übel und führen zu einem ruhelosen, mit Kämpfen erfüllten Leben. Dazu ein Beispiel einer Patientin, in deren Familie einige an Krebs gestorben waren. Typisch war, daß die Mütter starben, wenn die Tochter fünfzehn Jahre alt war, es sei denn, sie bekam eine neue Tochter: Sie schilderte einer hoffnungslose Situation, mir fielen bei der Betrachtung der Situationen Auswege ein, woraufhin ihr sofort eine neue Hoffnungslosigkeit in den Sinn kam. Und so ging das von einer Situation zur nächsten. Ich fand, daß sie eine ungemeine Kreativität in der Aussichtslosigkeit besaß, ich sprach von einer Sackgassenkreativität. Die Hoffnungslosigkeit erwuchs ihr in vielen Köpfen der Hydra. Sehr viele Mythen und Geschichten beschreiben diesen Kampf, etwa Don Quichote, der die Windmühlenflügel für Feinde hält und in seinem Kampf auch noch Assistenz erhält, somit bestätigt wird. Im Alltag findet sich dieses Phänomen immer wieder, weswegen der Begriff so bekannt ist. Ähnlich bemüht sich Sisyphus. Dornröschen versteckt sich automatisch hinter dicken Mauern und Dornen, Schneewittchen schläft seinen Schlaf, beide wohl vor den Bedrohungen der Sexualität, aber auch vor vielen anderen Inhalten, und warten auf die Erlösung durch eine jugendliche, glänzende Vaterfigur, dem Prinzen.

Im Folgenden möchte ich einige typische und weit verbreitete Mechanismen und Automatismen darstellen.

Als Hintergrund der Mechanismen und Automatismen sehe ich, daß durch die Bedrohung die Differenzierungen auch in der zeitlichen Abfolge verloren gehen, wie bereits anfangs in der holistischen Wahrnehmung erwähnt. Die Zeitabfolge ist durch die Koppelungen und Gleichsetzungen auf ein Minimum verkürzt. Inhalte, die an sich in der Realität nacheinander stattfinden, werden durch die Zeitverkürzung praktisch zusammengeführt, als ob sie sich zu einem Zeitpunkt ereignen (Synchronie statt Diachronie). Eine Folge kann sein, daß Individuen und Gruppen meinen, alles sei auf einmal zu erledigen. Vorhaben und Vorsätze, die an sich nacheinander zu bewältigen sind, erscheinen dann wie ein Berg, dessen Überwindung unmöglich ist und vor dem angstvoll zurückgewichen wird, die typische Situation eines Depressiven. Durch diese Synchronie werden die Möglichkeiten anderer Abläufe ausgeblendet. Dazu ein Beispiel aus dem Sportalltag: Steht eine Fußballmannschaft an der Spitze der Tabelle und macht sich bei den einzelnen Spielern und der Mannschaft das bild breit " alle gegen einen " werden sie vor der vermeintlichen Übermacht der Gegner verzagen, verkrampfen und eventuell dadurch ihr bild bestätigen und verlieren. Die Realität der zeitlichen Abfolge ist jedoch " einer nach dem anderen ", so wie sie an die Spitze gekommen sind und weiterhin gewinnen könnten. Dies Beispiel und das depressive Berggefühl zeigen, daß der Verlust der zeitlichen Synchronisation die eigentliche Bedrohung darstellen, weil dadurch die Anforderungen gigantische Dimensionen annehmen.

Die 1. und einfachste Form der automatischen Verhinderungsstrategien ist die Kontrolle bis zur absoluten Beherrschung der Bedrohungen. Bei massiven Bedrohungen kann die Kontrolle bis zum Totalitarismus und Dogmatismus ausarten. Diese Kontrolle läuft automatisch und oft un- und vorbewußt wie eine Uhrwerk ab. So mag eine Mutter ihr Kind im Falle von verbreiteten Ängsten überall kontrollieren, damit ja nichts von ihren Befürchtungen eintreten kann. Inhalte der Ängste können sein, das das Kind schlecht erzogen, nicht brav, unanständig, schmutzig, unter- und fehlernährt ist, vor den bösen anderen Kindern, den bösen Lehrern, dem Leistungsdruck in der Schule, überhaupt, daß sie eine schlechte Mutter ist, die nicht genügend für ihr Kind gesorgt hat. Die überbehütende, kontrollierende Mutter sieht sich selbst als fürsorglich und erwartet in Ihren Augen zu recht Dankbarkeit. Das Kind gerät in den Zwiespalt, hat einerseits die Befürchtungen übernommen, andererseits gerät es in die Situation, dagegen zu opponieren oder das Gegenteil zu beweisen. Neben dem automatischen Gehorsam, der wiederum automatisch oft als Unterwerfung, diese wiederum als Kränkung oder Verletzung erlebt wird, besteht oft eine automatische Opposition, Verweigerung, Sabotage bzw. aus der Kindperspektive Trotz. Trotz und Opposition dienen zur Erhaltung der eigenen Position. Da das Thema und die Inhalte jedoch ursprünglich von außen kommen und somit fremdbestimmt sind, wird die Position durch das Gegenüber vorgegeben und stellte insofern keine Selbstbestimmung dar. Das Kind mag schwanken zwischen Gehorsam und Opposition, Verweigerung und Trotz. Die automatische Schutzfunktion vor der und für die Mutter und den eigenen Ängsten kann schon im vorauseilenden Gehorsam geschehen. Dadurch wird das Leben des Kindes von den Ängsten der Mutter und der Verhinderungsstrategie bestimmt und jegliche Selbstbestimmung und jeglicher Freiraum gehen verloren. Umgekehrt ist genauso das Leben der Mutter von den Ängsten, dem Trotz, der Überwindung des Trotzes, einen möglichen Kampf ohne Ende bestimmt. Harmonie kann nur durch eine Unterdrückung der verschiedenen Standpunkte und entstehenden Aggressionen entstehen. In diesem Absatz wurden schon die Folgen der Kontrolle illustriert.

Einfache Koppelungen, Gleichsetzungen und Automatismen im Verhalten sind etwa, Frage = Antwort, also automatisch auf Fragen zu antworten, Erwartungen, Wunsch = Erfüllung, also Wünsche und Bitten automatisch zu erfüllen. Dabei mag es sowohl für den Fragenden als auch für den Befragten ein ungeheures Verbrechen sein, nicht auf Fragen zu antworten. Erwartungen, Wünsche und Bitten werden somit zu Ansprüchen und Befehlen. Die Standpunkte und die Interessen des Gegenübers werden außer Kraft gesetzt, für diesen wiederum eine latente Bedrohung, die seinen Widerspruch geradezu herausfordert. Wunsch, Erwartung und Bedürfnis wird dann mit Recht gleichgesetzt. Die dahinter stehende Bedrohung des Fragenden kann sein, daß der Fragende oder Erwartende seine Ziele nicht erfüllt sieht oder noch weitergehend, er kein Recht auf seine Fragen oder Erwartungen hat bzw. diese entwertet sind oder er als Gesamtperson (Teil für das Ganze) entwertet ist. Dabei wird Wert mit Recht gleichgesetzt. Wer wenig oder kein Recht hat, ist wertlos. Und erhöhter Wert beansprucht erhöhte Rechte. Dabei sind Wert und Recht derartige Koppelungen. Auch mag es für den Befragten, der meint, er müsse auf Fragen antworten, eine Zumutung des Fragenden zu sein, überhaupt ihn zu befragen. Da der Fragende oft schon die Reaktion des Befragten kennt, wird er keine Fragen mehr stellen und ist somit in seiner Entfaltung massiv behindert. Derartige Verwicklungen und Verstrickungen mögen sich oft in kleinen Alltagsituationen abspielen.

Eine ähnliche Koppelung ist, Verstehen und Verständnis für den anderen bedeutet gleich Handeln im Sinne des anderen. Dann sind Eigeninteressen nicht erlaubt und werden als Rücksichtslosigkeit oder Egoismus gewertet und entwertet. Verständnis für die eigene Person, in die eigenen Ziele und Interessen, also Selbstverständnis und Verständnis für den anderen schließen sich aus. Kompromisse und Konsens sind also nicht möglich. Ein Mensch kann also automatisch in seinen Interessen zurückstehen und im Sinne der Gleichheit und Gerechtigkeit beansprucht er dasselbe vom andern. Wenn dieser eine andere Form des Verständnisses hat, sind Mißverständnisse und Konflikte vorprogrammiert.

Die Verweigerungsfolge zur Erhaltung der eigenen Person kann sein, andere Menschen nicht verstehen zu können, also die Unmöglichkeit zur Probeidentifikation mit anderen bzw. zur Empathie. Die umgekehrte Koppelung kann sein, daß die Verschiedenartigkeit des Verstehens außer Kraft gesetzt ist. Ein Mensch glaubt zu wissen, was in dem anderen vorgeht und dieser will. Dann meint beispielsweise eine Mutter, genau über die Wünsche und inneren Vorgänge ihres Kindes Bescheid zu wissen, richtet sich nach ihren inneren Vorgaben und stellt sich vermeintlich auf das Kind ein, die für das Kind durchaus falsch sein können. Dieses übernimmt diese Vorgaben, wobei diese durchaus im inneren Widerspruch zu sich selbst sein können. Falls dieser Vorgang offen ausgesprochen wird, weiß es noch einigermaßen, wo es dran ist. Laufen diese Verstehensweisen unausgesprochen als Selbstverständlichkeiten ab, gerät es noch mehr in die Preduille.

So mag sich eine Mutter, deren Kind auf ihre Fragen und Bitten nicht eingeht, aufgrund ihrer Vorerfahrungen völlig entrechtet und entwertet vorkommen, also gekränkt reagieren, sodaß das Kind sofort, möglichst schon vorauseilend gehorchen muß (vorauseilender Gehorsam). Eine kurze Überlegensspanne kann schon zu viel sein. Die Mutter reagiert gekränkt und bedrohlich strafend und fordert sofortigen und absoluten Gehorsam. Möglichst muß das Kind schon auf eine Kette von unausgesprochenen Erwartungen reagieren, sich anpassen und gehorchen. Da im Kopf einer Mutter sich aber nicht immer dieselben Erwartungen abspielen, wird diese für das Kind unberechenbar. Es können Strafen erfolgen, für die es nicht die Hintergründe kennt und auf die es sich nicht einstellen kann. Eine sich bedroht fühlende Mutter kann also für ein Kind eine Bedrohung und die Kindheit zur Hölle werden. Wie erwähnt wird das Kind durch die Nichtanerkennung und Entrechtung geradezu zu Widerspruch und Trotz provoziert. Dadurch entsteht gerade bei kleinen Kindern, die sich noch nicht ausreichend auf ihre Eltern eingestellt haben, die so genannte Trotzphase. Das Kind gerät in einem inneren Widerspruch, das zu tun, was die Mutter fordert und was es durch die Übernahme der bilder selbst für richtig hält, und muß dagegen zur Erhaltung des eigenen Selbst zu opponieren.

Eine wichtige Gleichsetzung bzw. Koppelung ist, die automatisch abläuft, Phantasie = Realität bzw. Denken = Glauben. Frühere Erfahrungen, aus denen die bilder und Fantasien stammen, werden automatisch geglaubt in der Gegenwart und Zukunft. Man kann es auch das Primäre Denken nennen. Nach dieser vermeintlichen Realität wird gehandelt. So sagte ich einmal zu einem schwer gestörten Patienten in der ersten Stunde " ihre bilder und Fantasien klingen so real ", woraufhin er lachend antwortete " ich habe ja auch die Weisheit mit Löffeln gefressen !".

Einen anderen Zusammenhang möchte ich am Begriff der Lüge aufzeichnen. Lügen ist oft etwas verbotenes und tabuisiertes. Der Lügner ist als solcher stigmatisiert. Dabei wird das Selbstbestimmungsrecht der eigenen Aussage außer Kraft gesetzt, etwas anderes auszusagen als ich selbst für die Wahrheit halte. Der Begriff der Notlüge zeigt auf, daß Lügen zur Verhinderung einer Bedrohung oft recht sinnvoll sein kann. Aus einer anderen Perspektive kann man es als eine Unverschämtheit ansehen, die Wahrnehmung derSelbstbestimmungsrechte zu verbieten und den Lügenden als Lügner, eine Verunglimpfung, zu bezeichnen. Der Stigmatisierende setzt sich aus dieser Warte selbst ins Unrecht. Im bedrohlichen Zusammenhang ist jedoch die Sichtweise aus verschiedenen Perspektiven bedrohlich, wird nicht erlaubt und tabuisiert.

In dieser holistischen Wahrnehmung gilt das Gesetz der Linearität und Endgültigkeit. Anders ausgedrückt, es gilt oft das Gesetz des zielstrebigen und geradlinigen Handelns. In den Unwägbarkeiten des Lebens ist es Pflicht, oft sogar ein Automatismus, alles genau zu wissen, vorherzusehen, exakt zu planen und sich voll und ganz zu entscheiden. Das Wissen, die Vorhersehung, die Planung und Entscheidung sind unwandelbar, endgültig, an ihnen ist nicht zu rütteln. Zielstrebige Geradlinigkeit wird als Tugend gefeiert, ist aber völlig unrealistisch. Dahinter steht, daß das Ziel als etwas Endgültiges, Absolutes und Ewiges angesehen wird, die verschiedenen Betrachtungsweisen am und im Ziel und der weitere zeitliche Ablauf über das Ziel hinaus total ausgeblendet sind. Deswegen enden Märchen meist dort, wo sie sich nach langen Schwierigkeiten endlich gekriegt haben, während im realen Leben die Schwierigkeiten erst dann anfangen. Beim linearen Weg zum Ziel, der Linearität, sind die Wechselhaftigkeit, das auf und ab und hin und her ausgeblendet. Diese werden sozusagen zu einer geraden Linie zusammengeführt, die je nach Tendenz geradewegs nach oben oder nach unten führt. So mag eine Mutter fürchten, wenn das Kind eine mäßige oder schlechte Schulnote nach hause bringt, daß es nur noch schlechter werden kann, das Kind sitzen bleibt, die Schule nicht schafft und schließlich in der Gosse landet. Das mit allen Mitteln zu verhindern, fühlt sie sich aufgerufen und verantwortlich. Oder in Industrie und Wirtschaft, muß es linear aufwärts gehen, was aber praktisch dauerhaft nicht möglich ist. Die lineare Abwärtsbewegung wird gefürchtet. So schilderte mir einmal ein Patient, ein Wirtschaftsmanager, "in Wirtschaft und Industrie wird das Auf und Ab noch gerade toleriert, während das Hin und Her, der Zickzackkurs, völlig verpönt sind, obwohl überall gang und gäbe". Er hatte nach großen Erfolgen ständig den Absturz gefürchtet. Als wir uns die Endstufe in der Vorausschau vergegenwärtigten, war er sichtlich erleichtert und erlöst. Jetzt konnte nichts mehr passieren. Weiterhin zeigt dieses Beispiel, daß eigentlich nicht das Ziel, sondern die Angst davor und der Weg dorthin die Priorität darstellen. Für die Außenwelt konnte er das Auf und Ab realisieren, aber bei sich selbst nicht. Dort war er blind. Dazu fällt mir der Spruch ein "es ist leichter einen Splitter im Auge des anderen, als einen Balken im eigenen Auge zu sehen". Das ist gut verständlich, da er in der Außenwelt nicht die Bedrohung sah und leichter differenzieren konnte, sondern in der eigenen Person und in seinen Ängsten.

Da aber in Wünschen und Zielen praktisch alle Dinge und Inhalte ihre Vor- und Nachteile haben, ihre Sonnen- und Schattenseiten besitzen, muß, je nach dem welche Seite bewußt und unbewußt in den Vordergrund des Gesichtsfeldes tritt, das Handeln widersprüchlich und nicht geradlinig sein. Den Sachverhalt kann man sich leicht vor Augen führen, wenn man sich im auf und ab und hin und her des Lebens die geschwungene Linie vorstellt, sodaß die gerade Linie immer neben der Spur liegt, höchstens mal Berührungspunkte findet. Wie oben erwähnt, sind gerade die unbewußten Anteile bestimmend. Das Leben des Handels geht auf und ab und hin und her. Welchen Partner oder Beruf ich wähle, ob ich ein Kind wünsche, dies hat alles seine Vor- und Nachteile von Erfüllung oder Verzicht, seine Sonnen- und Schattenseiten, sodaß die Wahl je nach dem, was gerade ins Sichtfeld kommt, hin und her gehen mag. Dieses Hin und Her, der Wechselkurs und die Wankelmütigkeit sind jedoch in der Bedrohung streng tabuisiert und verboten. Geradlinige Zielstrebigkeit ist Pflicht und geboten. Die Sichtweise der Vor- und Nachteile führt zum Begriff der Ambivalenz, die im Grunde bei allen Wünschen und Zielen bestehen muß. Wie bei einer Waage kommt es mehr darauf an, welche Seite schwerer wiegt. Oft genug ist es ziemlich gleichgültig, was ich tue oder welches Ziel ich anstrebe, da die Vor- und Nachteile sich aufwiegen und nicht so genau vorhersehbar sind.

Ein häufiger Automatismus ist die Reaktionsbildung, wenn jemand Böses in sich wahrnimmt, gut aufzutreten und der Gute zu sein. Oft ist dieses Gutsein unantastbar, da sofort das Böse gefürchtet wird, kann nicht differenziert betrachtet werden und wird oft an Andere weitergeleitet in Form von Vorwürfen und Projektionen. Veranschaulicht kann dies werden durch den Zeigefinger der Hand, wobei der Zeigefinger bei Vorwürfen offen auf den anderen zeigt, verdeckt unter der Hand jedoch drei Finger auf den Vorwerfenden zurückweisen.

Ähnlich kann es sich verhalten, wenn jemand Böses wie Streit fürchtet, automatisch harmonisch oder harmonisierend aufzutreten. Streit wird sozusagen vor der Entstehung automatisch unterdrückt. Da bei der Harmonisierung beim Streit die verschiedenen Standpunkte nicht akzeptiert und unterdrückt werden, wird Streit zur Wahrung der Standpunkte geradezu herausgefordert. Wird trotzdem die Harmonie äußerlich aufrechterhalten, kann man von Pseudoharmonie sprechen. Derartige Pseudoharmonie herrschen oft in Kontexten wie Familien, wo alle den Streit fürchten, ihre verschiedenen Standpunkte und entstehenden Aggressionen unterdrücken und diese an allen Ecken und Kanten hervorquellen etwa in Form von spitzen Bemerkungen, sodaß alle zerstritten sind. Oft wird die Angst an einem Familienmitglied festgemacht, das dann als Symptomträger gilt. Dazu das Beispiel des Schleimscheißers, medizinisch Colitis mucosa. In diesem Volksmundausdruck sind mit einem Wort die Persönlichkeit, der Körperbefund, er hat Schleimdurchfälle, und die tragische zwischenmenschliche Problematik erfaßt. Der Schleimscheißer tritt äußerst höflich auf und stößt auf Abwehr. Er versucht durch Höflichkeit mögliche Aggressionen zu umgehen. Da andere sich aber vereinnahmt fühlen, reagieren sie abwehrend. Diese schleimige Höflichkeit ist ihnen verdächtig. In seiner Höflichkeit schwingen aufgrund der Vorerfahrungen die Aggressionen untergründig schon mit, und er wird diese nicht lange aufrechterhalten können, sodaß er trotz oder gerade wegen seiner Höflichkeit ständig in Streit gerät - einem Circulus vitiosus, aus dem er keinen Ausweg findet.. Über die Prägungen ist anzunehmen, daß viele Familienmitglieder äußerst höflich und unterschwellig aggressiv sind. In diesem Umfeld werden die Höflichkeiten einander sozusagen um die Ohren geschlagen.

Eine ähnliche automatische Reaktionsbildung läuft ab, wenn Menschen sich in ihrer Minderwertigkeit bzw. ihrer Minderwertigkeitsgefühlen, arm oder bedürftig, schwach oder hilflos fühlen genau gegenteilig aufzutreten. Sie wirken besonders selbstbewußt, selbstsicher und souverän, daß andere nur auf sie neidisch werden können. So hatte ich einmal einen Patienten, der früher drogensüchtig war, jetzt nur über seine Schmerzen und sein Unglück klagte, jeder würde ihm sein Unglück ansehen und dieses ausnützen, in seinem Sessel aber in meinen Augen saß er wie die Made im Speck, selbstsicher saturiert grinsend, daß man nur neidisch werden konnte, und sie antwortete, weil er sie in ihrer Krankheit so schön pflege. Sie starb an Darmkrebs. Noch während ihrer Erkrankung berichtete sie von ihren Urlauben, sodaß nur jeder einschließlich Therapeuten neidisch werden konnte.

Eine der wichtigsten Mechanismen scheint mir die Spaltung zu sein. Die bedrohliche bzw. traumatisierende Vorerfahrung schlägt wie ein Donnerkeil zwischen die verschiedenen Anteile. Hintergründe, Zusammenhänge, Zwischenschattierungen, verschiedene positive und negative Anteile gehen verloren. Die Welt wird beispielsweise in gut und böse, richtig und falsch, oben und unten eingeteilt. Andere Aspekte und Zwischenschattierungen werden sozusagen der einen oder anderen Seite zugeschlagen, sodaß man auch von einer Polarisierung sprechen kann. In der Spaltung herrscht die Ausschließlichkeit. Leicht zu ersehen ist, daß die Spaltung in Normen, Regeln und Selbstverständlichkeiten über Generationen weitergegeben wird. Sie dient der Herstellung einer primitive Ordnung. Der bedrohlich Erlebende scheint zu wissen, wo er dran ist, was richtig und falsch, gut und böse ist. Eine Form der Spaltung, die ich häufig in Therapien erlebe, wenn ich das hin und her und auf und ab und die verschiedenen Perspektiven und Positionen beschreibe, also die Vieldeutigkeit, diese als Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit aufzufassen. Dann sei es doch völlig egal, was denn tatsächlich sei. Die Spaltung ist zwischen Beliebigkeit und Fundamentalismus oder Dogmatismus. Den Unterschied zwischen einem gespaltenen Erleben und einer integrierten Wahrnehmung möchte ich an den Worten kompliziert und komplex darstellen. In der gespaltenen Wahrnehmung wird es kompliziert, die eine und einzige Wahrheit herauszufinden, es kann dieses oder jenes sein, in der komplexen Wahrnehmung werden verschiedene, sich nicht ausschließende, mehr oder weniger eine Rolle spielende Aspekte gesehen. Die Ausschließlichkeit gehört also zur Spaltung.

Eine häufige Form der automatischen Spaltung bzw. Abspaltung ist, negativ und bedrohlich erlebte eigene Inhalte, Zuweisungen, Beschreibungen und dazugehörende Gefühle an andere Personen zu delegieren bzw. abzuspalten. Man spricht von Abspaltung oder Delegation von Inhalten und Gefühlen. Dahinter steht der ursprüngliche Versuch, durch die Gefühlsunterdrückung die Harmonie und Liebe zu erhalten, anders ausgedrückt, während der Abspaltende und Delegierende selbst latent wütend ist, den anderen positiv auf sich einzustimmen. Dabei erfolgt oft eine Verschiebung der Aggressionen auf andere dritte Personen. Der Abspaltende bleibt aggressionsfrei, seine Gefühle übernehmen andere Personen, die auf die geschilderten Bösen, oft genug jedoch auf ihn selbst wütend werden. Ich erlebe oft genug, daß sich auf den unterwürfigen, sich selbst erniedrigenden oder überangepaßten Patienten automatisch wütend werden und mir erst dann seinen Hintergrund und seine unterdrückte Wut nachträglich klar machen kann. Bei der Verschiebung erlebe ist öfter, daß sich auf den Patienten wütend werde, während er andere unentwegt und undifferenziert schlecht macht. Die Aggression fällt sozusagen auf ihn zurück. Diese automatische Verhaltensweisen mögen in der Kindheit im Umfeld situationsgerecht gewesen sein, treffen aber in einem späteren Umfeld auf völlig andere Reaktionen. Oft genug haben sie aber auch schon im primären Umfeld Aggressionen erzeugt, waren unbewußt beabsichtigt, etwa daß der Sohn seinen Vater unbewußt zurück geärgert, also Vergeltung übt, diesen sozusagen in die selbst gestellte Falle laufen läßt und in die Situation des Bösen bringt. Der Sohn ist der Gute und Liebe und der Vater der Böse.

Eine Sonderform der Spaltung scheint mir die Pauschalisierung und Gleichsetzung oder etwa der Mechanismus, Teile zum Ganzen zu erklären, der "Pars pro Toto " zu sein. Gleichsetzungen als Automatismen wurden oben erwähnt. Bei der Pauschalisierung werden verschiedene Anteile zu einem zusammengeführt, so daß Unterschiede, Differenzierungen und Zwischenschattierungen verloren gehen. Bei der Pauschalisierung kann es passieren, daß wenn jemand etwas negatives sagt, sich selbst komplett in Frage zu stellen und tief verletzt zu sein. Eine weitere Sonderform der Spaltung scheint mir die Dissoziation zu sein. Ich verwende den Begriff im Gegensatz zur Assoziation, wo verschiedene Anteile wahrgenommen werden. Bei der Dissoziation sind Anteile von Inhalten und damit verbundene Gefühlen abgespalten und werden nicht im Zusammenhang wahrgenommen.

Die Spaltung scheint mir eine Form der Wahrnehmung zu sein, um Klarheit und Eindeutigkeit zu gewinnen. Dies bedeutet Sicherheit. Man weiß, wo man dran ist. Dies nicht zu wissen, bedeutet Unklarheit, Unsicherheit und Bedrohung. Unklarheit, Unsicherheit, Unbewußtes und Unsichtbares stellen die Bedrohung dar. Jedoch spaltet nicht nur der bedrohlich Erlebende, sondern diese wird sozusagen als Weltbild bei Bedrohungsinhalten über Generationen weitergegeben. Die Spaltung und die Ausschließlichkeit können zu Normen und Weltbild werden. Andere, nicht bedrohliche Inhalte können in differenzierter Form daneben stehen, sodaß dies nur die Bedrohungswelt betrifft.

Da die Spaltung nur eine Form der Scheinwelt ist, müssen die verschiedenen Anteile in der Realität gefürchtet werden. In der Welt der Spaltung erscheinen diese als Chaos und Verwirrung, die wiederum als Bedrohung erlebt werden. Diese Verwirrung möchte ich an einem bild veranschaulichen: Wenn zwei sich gegenübersitzen und eine Medaille betrachten, sehen sie jeweils eine Seite. Sind sie überzeugt daß die sichtbare Seite die gesamte Medaille darstelle, geraten sie in Verwirrung, wenn plötzlich die andere Seite erscheint, um so mehr, je mehr die Medaille hin und her gedreht wird. Somit tritt ein Kreislauf von Spaltung und Verwirrung auf. Aus einer anderen Sicht erscheinenden im auf und ab und hin und her des Lebens die verschiedenen Anteile als Widersprüche. In der Spaltungswelt sind Widersprüche verboten und werden oft genug geahndet. Bei Streitigkeiten kommt es mir oft so vor, daß die jeweiligen Bezugspartner jeweils die eine Seite der Medaille darstellen, und sich streiten, wie die ganze Medaille aussieht.

Oft findet eine Spaltung zwischen dem chaotischen oder verwirrten Familienmitglied und dem alles- oder besserwissenden Mitgliedern statt. Der eine ist immer im Unrecht und die anderen haben immer recht. Dieser Zusammenhang findet sich oft im schizophrenen Umfeld.

Das Beispiel der Medaille zeigt, inwieweit die sichtbare Wahrnehmung zum Ganzen erklärt wird, als ob das Unsichtbare nicht vorhanden wäre. Oft genug reagieren Menschen allein auf das Sichtbare z. B. als Kränkung auf eine Aussage, während die Betrachtung des Unsichtbaren, des Hintergründigen etwa die Motivationen der Aussage zu ganz anderen Resultaten kommt. Oft steckt hinter einer entwertenden Aussage die Selbstentwertung des Sprechers. Weil dieser sich dem Gegenüber im Nachteil oder unterlegen fühlen mag, muß er diesen von dem Sockel, auf den er in vorher gesetzt hat, herunter holen, um sich selber aufzuwerten. Oft/also befindet sich hinter einer Entwertung, und Mißachtung eine Aufwertung und Bewunderung. Wenn der Entwertete den unsichtbaren Hintergrund sieht, kann er stolz sein und sich anerkannt fühlen, wenn er schlecht gemacht wird. Der DigitaleDialog lebt, wie oben erwähnt, von der Herrschaft des Sichtbaren. Ein differenziert und komplex erlebender Mensch wird einen anderen nicht gleich völlig verurteilen, wenn er an diesem unakzeptable Eigenschaften feststellt und andere Seiten der Person annehmen können.

Oft kann keine Aussage getroffen werden, wenn Ambivalenzen, verschiedene Seiten und Widersprüche gesehen werden. Es herrscht Sprachlosigkeit. Widersprüche sind unakzeptabel und nicht aussagbar. Dahinter kann die felsenfeste Überzeugung stehen, sich klar, verständlich und eindeutig auszudrücken.

Bei der Verlustangst besteht die Neigung, den bedrohten Gegenstand oder Menschen unter allen Umständen fest zu halten bzw. sich anzuklammern oder zu umklammern. Da dem Umklammerten sozusagen die Luft wegbleibt, muß er mit allen Mitteln versuchen frei zukommen. Das Anklammern ist gleichzeitig also ein Wegstoßen - darin steckt die Tragik - und kann ein Automatismus sein. Gleichzeitig kann die Verlustangst ein Verlust der Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung bedeuten. In der Umklammerung kann der Bedrohte naturgemäß nicht eigene Ziele und Interessen verfolgen, da er um die Verhinderung des Verlustes des anderen bemüht ist. Wegen dieses Verlustes des eigenen Selbst besteht bei ihm die Neigung zu Distanzierung und Flucht. Insofern ist oft schwer zu unterscheiden, um wessen Verlust es eigentlich geht. Darin besteht die Tragik der Reaktionsbildung auf die Verlustangst.

Ein weiterer Mechanismus auf die Bedrohung ist die weit verbreitete Idealisierung. Hundertprozentig und perfekt zu sein, dann kann nichts mehr passieren. In der Perfektion steckt also das unsichtbare Gegenteil und die Bedrohung, zumal, da kein Mensch perfekt sein kann, jeder Mensch Fehler und Schwächen besitzt, und was eine Schwäche ist, ist sowieso Ansichtsache. In alten Mythen und Märchen ist dieser Sachverhalt etwa in der Geschichte von Siegfried oder Achill, der so genannten Achillesferse, fest gehalten. Wie schon oben erwähnt, besteht oft eine Neigung, Idolen und Göttern nachzueifern oder deren Schutz zu suchen wie in Religionen.

Die Idealisierung, die ursprünglich als Schutz vor den Gefahren eingesetzt wurde, wird meist zur Falle und Bedrohung, da sie zum Maßstab von Wert und Unwert wird, der gegenüber kein Mensch bestehen kann. In ihr steckt das Versagen. Hinter Minderwertigkeitsgefühlen und -komplexen stecken meist Ideale und Größenbilder.

In der Bedrohung geht oft das Nacheinander von Beurteilungen der Entscheidungen verloren. Weit verbreitet ist in den Kulturen, wie Erfahrungen von späteren Zeitpunkten der Beurteilung abhängig gemacht werden. Nicht der Zeitpunkt der Entscheidung des Handelns, wo in meinen Augen der Mensch immer nach bestem Wissen handelt, sondern ein späterer Zeitpunkt, wo man mehr über den Fortgang der Ereignisse weiß, ob ein ein Entscheidung richtig oder falsch ist, werden zugrundegelegt. Richtig deutlich wurde mir dieser Zusammenhang, als ich vor einigen Jahren in den Medien las, welche Fehler Eintracht Frankfurt beim Kauf von neuen Spielern und einem neuen Trainer gemacht hätte. Zum Zeitpunkt des Handelns hatte sich die Eintracht positives vorgestellt, später war es anders gelaufen. Im nachhinein haben die Besserwisser Hochkonjunktur. In meinen Augen werden diachrone Vorgänge, das Nacheinander von Entscheidungen Erfahrungen zu einer einzigen Beurteilung zusammengeführt. Synchronie statt Diachronie. Dieser Zusammenhang führt oft zu selbst Vorwürfen, sich falsch entschieden zu haben. Oft werden die Gedanken an mögliche und unglückliche andere Verläufe für Wissen - Phantasie gleich Realität - gehalten, sodass man sich vorwirft, sehenden Auges sich ins Unglück gestürzt zu haben. Bei MS Kranken habe ich diesen Vorfall mehrfach erfahren.

Die Herrschaft der Automatismen und Mechanismen und deren Folgen machen das Leben zu einem ewigen Kampf und einer Tragödie, im biblischen Mythos dem irdischen Jammertal, daß der Erlösung harrt, wie in der Bibel der Heiland. Dort hat der Erlöser schwer an seinem Kreuz zu tragen.. Für seine Besserwisserei, für seinen Anspruch, den Weg und die Wahrheit zu wissen und andere zu bevormunden und einzuengen, wird er an eben dieses Kreuz genagelt. In den deutschen Märchen werden diese Erlösungszusammenhänge etwa in Dornröschen, Schneewittchen und Aschenputtel fest gehalten. Die Bösen waren jeweils die Stiefmütter und die Erlöser die Prinzen. Den tieferen Sinn von Hexenverfolgungen und -verbrennungen sehe ich in der Verhexung der Kinder durch ihre Mütter, diese delegiert an andere Frauen zu strafen, sich zu rächen und sozusagen das Übel an der Wurzel ausrotten. Derartige Erlöser- und Erretterfunktionen finden in vielen Familien, wo Bedrohungsbilder vorherrschen, statt.

Dazu möchte ich einige Geschichtchen erzählen: Ein Patient, dem vom weiblichen Teil der Familie schon bei seiner Geburt die besten Eigenschaften zugeschrieben wurden, er rauche nicht, er trinke nicht, sei äußerst höflich, lasse die Frauen in Ruhe, lauter Eigenschaften, die bisher in dieser Familie von Seiten der Männer Mangelware waren. Er rauchte wie ein Schlot, soff wie ein Loch, trat äußerst höflich auf und ließ die Frauen in Ruhe. Er wurde nämlich homosexuell. Als solcher liebte er Darkrooms und Klappen. Als er sich mit seinem Freund aus Eifersucht in der Kneipe prügelte, sprach die Umgebung ehrfurchtsvoll von Kampf der Giganten. Wie so oft in diesen Fällen wurde er vom Vater als der Erlöser heftig bekämpft, anders als der duldsame Josef in der heiligen Familie. Seine Mutter war dermaßen stark mit ihm narzißtisch verquickt, daß sie bei seinem Examen wegen des Verdachts eines Schlaganfalls ins Krankenhaus eingewiesen wurde, er durchdrehte und vor lauter Angst sich krank schreiben ließ. Ein halbes Jahr später bestand er das Examen. Als ich fragte, was denn mit der Mutter sei, meinte er, die habe sich vorsorglich in eine Kurklinik einweisen lassen und er habe sie beruhigt dort gut aufgehoben gewußt.

Ich hatte mehrere Patienten, denen als Folge der Entwertung der Sexualität und der Männlichkeit die Priesterrolle auf den Leib zugeschrieben wurde. Schon nach außen traten sie salbungsvoll auf. Sie haben sozusagen den elterlichen Auftrag, eine bessere Welt zu missionieren. Sie waren in ihrer Sexualität einerseits erheblich behindert, andererseits schwelgten sie in sexuellen Provokationen. Einem dieser Patienten wurde schon bei der Geburt zugeschrieben, das er zu Höherem geboren sei. Dies Höhere war in den Augen der Mutter exzellente Leistungen in der Schule. Wenn er nicht regelmäßig eine Eins nach Hause brachte, war die Mutter massiv enttäuscht, entwertete ihn, drohte ihm bis zu eigenen Depressionen. Er hatte schon mehrere Augenärzte aufgesucht, um seine Augen wegen eines Tunnelblicks untersuchen zu lassen. Ab der Pubertät und später im Studium versagt er immer mehr. Später fand er unter anderem heraus, daß er seiner Mutter den Erfolg nicht gönnte, den sie sich stolz an die Brust geheftet hätte, wo sie ihm doch immer Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte. Er rächte sich, indem er lieber versagte. Später als er sich beruflich voll ins Zeug legte, um seine verinnerlichten und seiner Mutter hohen Ansprüche zu erfüllen, auf die Chefs projiziert, wurde er zweimal gekündigt, da diese als Alkoholiker gute Leistungen, ihre Positionen gefährdet sehend, nicht zulassen konnten und ihn fortwährend entwerteten.

Daß gute Leistungen bestraft werden, habe ich schon oft erlebt. Wenn man sich vor Augen führt, wie viel Alkoholiker in Behörden und Betrieben in gehobenen Positionen sind, die sich allesamt gefährdet sehen und um ihr Überleben kämpfen, wird deutlich, daß diese gute und hervorragende Leistungen nicht zulassen können. Deshalb halte ich Einübungen für optimale Präsentationen bei beruflichen Bewerbungen und Vorstellungen für reichlich überflüssig. Man weiß nie, was das Gegenüber erwartet. Oft wird der Schlechteste genommen. In großen Betrieben ist deshalb Einstellung und Arbeitsplatz strikt getrennt. Wie unglücklich die Auswahl nach dem Numerus clausus ist, möchte ich an folgender Aussage darstellen. Vor vielleicht zwanzig Jahren sagte mir ein Zahnmedizinprofessor " früher haben wir die Leute mit zwei linken Händen rausgeekelt, heute haben wir ja nur noch solche Leute! "

Tragische Kreisläufe

Die (Teufels-) Kreisläufe ergeben sich dadurch, daß die Abwehr von Bedrohungen und die Verhinderungsstrategie gerade diese bestätigen. Die Bestätigung ergibt sich aus der Abwehr. Schließlich wäre sonst nichts abzuwehren. Der Vogel Strauss beschwört sozusagen die Gefahren, vor dem er den Kopf in den Sand steckt, und kann nicht wahrnehmen, daß oft gar nichts ist. Er bestätigt die Bedrohung, weil er sonst nicht den Kopf in den Sand stecken würde. Eine Rechtfertigung und Entschuldigung bestätigt das Unrecht und die Schuld, sonst wäre nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Die Unterdrückung von Streit in der Familie führt oft gerade zu Streit, weil neben dem Harmonie- und Sicherheitsbedürfnis das Selbstbehauptungsbedürfnis nicht total zu unterdrücken ist bzw. die Gefühlskontrolle selten vollständig ist und Streitpunkte an allen Ecken und Kanten hervortreten und somit die Familie vermehrt zerstritten ist. Anschließend sind die Aggressionen wieder zu unterdrücken und der Kreislauf hängt von vorne an. Diese Hintergründe und Zusammenhänge finde ich regelmäßig in Familienzusammenhängen, wo vermehrt Angst auftritt, die oft an einem Mitglied fest gemacht wird.

Gerade die Idealisierung und Perfektion führt zum Kreislauf von Versagen und weitere Idealisierung.

Die Übernahme von Schuld führt zur Entlastung der Beziehung, der Andere ist ja von der Schuld befreit, aber zur Belastung der eigenen Person. Anscheinend ist die harmonische äußere Beziehung, die Sicherheit in der Beziehung, das Wohlergehen des anderen, das wiederum in der Rückkoppelung zum eigenen Wohlergehen führen kann, wichtiger als die Harmonie in der eigenen Person.

Gleichheit und Gerechtigkeit

Das Bindungs- und Beziehungsgrundbedürfnis führt weiter zu einem Grundbedürfnis der Gleichheit und somit der Gerechtigkeit. Der Mensch vergleicht sich ständig im zwischenmenschlichen Kontext. Ungleichheit nimmt er als Ungerechtigkeit wahr. Der Vergleich kann zwei widersprüchliche Schicksale erfahren. Einmal geht bei bedrohlichen Vorerfahrungen wie oben erwähnt die Differenzierung, also das Erleben der Unterschiede, also der verschiedenen Positionen und Perspektiven, Ziele und Interessen verloren, zum anderen gehen die Gemeinsamkeiten verloren und Ungleichheiten werden besonders diskrepant weit über das reale Maß hinaus erlebt. Es besteht eine Spaltung zwischen Höher- und Minderwertigkeit, oben und unten oder Sieg und Niederlage. Die menschliche Tragik ist also, daß bei dem Ziele des Gleichheits- und Gerechtigkeitsgewinns, die Gleichheit und Gemeinsamkeiten nicht wahrgenommen werden und Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geradezu produziert werden.

In der menschlichen Anlage schließt das Gleichheits- und Gerechtigkeitsgesetz Autonomie und Selbstbehauptung aus, denn durch die verschiedenen Wünsche und Ziele entstehen naturgemäß Ungleichheiten. Insofern geht die menschliche Tragik weiter, daß das Gleichheitsbedürfnis zu Widersprüchen im Selbstbehauptungsbedürfnis führt. Wenn dort nicht durch Besonnenheit und Verzicht ein Ausgleich herbeigeführt wird, gerät der Mensch in eine selbst gestellte Falle.

Im Folgenden möchte ich Beispiele anführen, inwieweit das Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzip und zu Leiden und zwischenmenschlichen Konflikten führt. Nach Katastrophen führt dies etwa zur Überlebensschuld. KZ -Überlebenden leiden etwa über lange Zeit unter Schuldgefühlen, ihre Familienangehörigen überlebt zu haben, die so stark sein können, daß sie in ihrem Leben nicht mehr glücklich werden und in ihren Augen besser nicht überlebt hätten.

Ähnlich ist es mit der Loslösungsschuld: sich aus einer zerstrittenen und Krankenfamilie herauszulösen, wird mit innerer Schuld beantwortet, diese im Stich oder hängen zu lassen. Das sich lösende Familienmitglied wird entwertet, "nur eine Ratte verläßt das sinkende Schiff". Dadurch steht das Familienmitglied in einer inneren Zerrissenheit, einerseits selbst mit dem Familienkontext unterzugehen oder unter Schuldgefühlen zu leiden. Im griechischen Mythos wird dies mit dem bild von Scilla und Charybdis fest gehalten. Zur Vermeidung der Loslösungschuld erfolgt oft genug keine Loslösung.

Im Entwicklungsprozeß kann die Gleichheit und Gerechtigkeit zu Konflikten unter den Kindern führen, wenn etwa das eine Kind etwas geschenkt bekommt, möchte dies das andere auch haben, auch wenn dies vorher gar nicht sein Interesse war und nicht gewesen wäre . Es muß etwas bekommen, weil es das andere auch hat. So muß es aus Gründen der Gerechtigkeit das für sich Falsche begehren. Wenn das zweite Kind dies nicht bekommt, muß das erste unter Schuldgefühle leiden, im griechischen Mythos ein Dana'er Geschenk

Krankheitsfolgen

Meiner Ansicht nach treten Krankheiten grundsätzlich dann auf, wenn ein allzu starker Widerspruch, innere Diskrepanz oder Spannungsgefälle zwischen den menschlichen Grundbedürfnissen und den individuellen Ansprüchen und der selbsterlebten Wirklichkeit besteht. Dies kann auftreten, wenn die Abwehrmechanismen und Verhinderungsstrategien im Bedrohten selbst und dem Umfeld unzureichend sind bzw. versagen. In den vorherigen Ausführungen habe ich eine kleine Palette von häufigen und möglichen Hintergründen und Zusammenhängen dargestellt. Je nach Bindungsform und -verhalten können die Gründe in der Umwelt oder mehr in der eigenen Person liegen. In der sicheren Bindung sind starke äußere Reize wie Krankheitserreger oder Katastrophen notwendig. In der unsicheren Bindung können zusätzliche längerfristig starke unerfüllte Nähewünsche eine ausschlaggebende Rolle spielen. Wie oben erwähnt ist die verstrickte Bindung am meisten krankheitsanfällig. In ihr sind weder die Bedürfnisse nach Nähe und Ferne und in beiden Bereichen der Autonomie erfüllt, sodaß besonders leicht chronische Krankheiten auftreten. Ein Versagen der Abwehrmechanismen können etwa eine unzureichende zwischenmenschliche Kontrolle, überhöhte und frustrierte Ansprüche an das eigene Selbst und das Umfeld sein.

In der Welt der Bedrohungen in Vergangenheit und Zukunft treten in der Gegenwart vielfältige Ängste und Spannungen auf. Dabei erscheint mir der Zukunftsentwurf entscheidend. Das Leben wird zum reinsten Streß und Streß macht bekanntlich krankheitsanfällig. Diese Ängste und Bedrohungen entsprechend häufig nicht der aktuellen Realität. Dann wird oft von irrational gesprochen. Wenn man jedoch den Vergangenheits- und Zukunftsentwurf einbezieht, erscheinen sie durchaus rational bzw. im Verstand nachvollziehbar. Aus dieser Sicht erscheinen diejenigen irrational, die das Vergangenheitserlebnis ausklammern, und nur ihre oder eine weit verbreitete, oft normative Sichtweise als rational anerkennen.

Da Geist, Körper und zwischenmenschliches Umfeld eine Einheit bilden, werden geistige innere bilder, Aussagen und Verhalten des Umfeldes über zwischenmenschliche Einflüsse im Körper wieder erlebt. Sie bilden also eine Körperrepräsentanz. Einfach nachzuvollziehen ist, wie Ängste, die nicht nur in der Person stecken, sondern aktuell von außen gemacht werden können, sich auf den Körper auswirken, etwa Schweißbildung, Durchfall und Harndrang, Muskelspannungen, Herzklopfen und Herzjagen, weiche Knie, Luftnot. Man spricht auch von Körpersprache. Im Grunde ist sämtliche Psychosomatik im Volksmund in vielen Redewendungen fest gehalten. Unterdrückte Aggressionen können sich als Depressionen auswirken, schon das lateinische Wort "deprimere" besagt niederschlagen. Scham und Gesichtsröte sind bekannt. Für viele Körperorte finden sich vielfältige Redewendungen, die ich jedoch nicht näher ausführen möchte, da sie zu umfangreich wären. Ich habe einmal einen Artikel über psychogene Gangstörungen gelesen, indem allein eine halbe Seite Volksmundausdrücke gesammelt waren.

Da es sich um Bedrohung, Ängste Entwertungen und lauter unangenehme Dinge im Leben eines Menschen handelt, will verständlicherweise kaum jemand etwas damit zu tun haben. Außerdem handelt es sich um schwer objektiv erfaßbare Dinge, um subjektive Erlebnisses, die oft genug verdrängt und verleugnet sind, wobei in andere Menschen projiziert, unterstellt und delegiert wird. Die Zwischenmenschlichkeit wird sozusagen zu einem Pulverfaß. Deswegen sind Aussagen wie psychisch oder psychosomatisch entwertet und stigmatisiert. Diese Aussagen werden oft mit verrückt, Psychokrüppel, eingebildeter Kranker und Simulant gleichgesetzt. Die Folge ist, daß die Erfassung psychische Störungen eine weitere Bedrohung bzw. Traumatisierung darstellt. Allein wenn man schon einmal bei einem Krebskranken von Psyche redet, verbindet er dieses mit Schuld und selbst schuld und fühlt sich in seinem Selbstbild tief getroffen, was sich auf seine Immunsystem nicht gerade gesundheitsfördernd auswirkt. Deswegen möchte jeder körperlich krank sein und entsprechend körperliche Diagnosen hören. Dann ist er beruhigt und entspannt, die Krankheit kann sich leichter bessern. Folglich ist derjenige ein guter Arzt, der auf völlig diffuse, nicht greifbare Beschwerden eine klare, eindeutige, unanfechtbare Diagnose stellen kann mit einem klaren, erfolgsversprechenden Behandlungsplan.

Über die Generationsfolge von Prägungen wird die Tradition von Krankheiten innerhalb von Familien und Kulturen verständlich. Viele Krankheiten wie Magenbeschwerden, Schizophrenie, Migräne, Herzinfarkte, Rückenbeschwerden und Krebs und anderes treten in Familien gehäuft auf. Mediziner sehen die Ursache gerne in den Anlagen, den Genen. Da der Mensch nach seinem Prägungen, dem Charakter handelt, wird gerne die Eigenverantwortlichkeit und somit die Schuld gesehen. Der Kranke ist also an seiner Krankheit selbst schuld, obwohl er nach Prägungen lebt, die er selber oft noch nicht mal kennt. Sie sind für ihn so selbstverständlich, daß sie sich außerhalb seiner Wahrnehmung befinden. Aufgrund und als Folge seiner Prägungen ist es in meinen Augen völlig unrealistisch, dem Kranken die Schuld für seine Krankheit zu geben, auch wenn er sich krank und zu Tode säuft, sich voll frißt und kaum bewegt, anderes gesundheitsschädigendes und todesbedrohliches Verhalten zeigt. Meist kämpft er sowieso trotzig gegen die Besserwisserei und guten Ratschläge des Umfeldes an und behauptet sich so in der Krankheit. Insofern kann Krankheit Selbstbehauptung und -selbstverwirklichung sein. Bei Magersüchtigen wird dies besonders deutlich.

In unserem kulturellen Kontext wird, wenn etwas schief geht, an dem mehrere ursächlich beteiligt sind, gerne die Schuld an einer Person oder einer Gruppe festgemacht. Mit der Erklärung der Veranlagung und Gene sind alle aus dem Schneider. Sie dient der Entlastung und wird oft wie bei Depression, Schizophrenie und körperlichen Erkrankungen als Erleichterung empfunden. Die gegenseitige Schuldzuweisung, nämlich das der Kranke selbst oder die Mutter, der Partner oder die Gesellschaft schuld sind, wird somit umgangen.

Ein weiterer Weg zu Schuldentlastung ist, ich nenne es mal so, das mechanistische Weltbild. Wo etwas weh tut, muß etwas kaputt sein. Krankheitsort und Problemort sind identisch. Durch die traumatischen Vorerfahrungen geht die Zusammenhangssicht und Differenzierungen verloren. Übergeordnete Einflüsse vom menschlichen Geist werden nicht gesehen, etwa daß Rückenbeschwerden Folge von Angstspannungen, unterdrückten Aggressionen und Überbemühungen sein können, die zu Überlastungen führen und sich im Kopf abspielen. Zwischen Körper und Geist findet eine Spaltung statt. Da der Kranke die Hintergründe und Ursachen nicht wahrnimmt, steht er nach außen souverän über seinen Ängsten und Aggressionen wie etwa ein Migräne- oder Ulcuskranker. Nur im Körperleid erscheint er schmerz- und angstverzerrt, da das seelische Leid nicht wahrgenommen wird. Der Verweis an einen Psychotherapeuten erscheint ihm als neue Kränkung, Demütigung und Erniedrigung und ist auf dem Niveau dieses Weltbildes unakzeptabel. Und schließlich will der Arzt seinen Patienten auch nicht loswerden, von dem er anerkannt werden möchte und an dem er seinen Unterhalt verdient. Er wird zu Körperbehandlungen neigen. Oft genug hängt der Arzt selber dem mechanistische Weltbild an als Folge eigener Traumatisierungen in seiner Entwicklung. Deswegen dauert die Überweisung an Psychotherapeuten erfahrungsgemäß im Schnitt sieben Jahren und erfordert in der Zwischenzeit Unmengen von Behandlungskosten, bis manchmal Einsicht bei Arzt und Patienten dazu führen, daß es so nicht weitergehen kann.

Ein im mechanistischen Weltbild Lebender wird sich von seinem Umfeld, dem Arzt, seiner Familie, oft genug auch von sich selbst nicht anerkannt fühlen, wenn kein organischer Grund oder Defekt gefunden wird. Er wird sich sein Leid selber nicht glauben. Wo nichts ist, kann auch nichts sein. Er steht unter Legitimations- und Rechtfertigungsdruck, die seine Krankheit verstärken können. Die Folge kann sein, daß sich sein Leid verstärken muß, um vor sich selbst und seinem Umfeld glaubhaft zu erscheinen. Außerdem verstärken seine Aggressionen wegen der Nichtanerkennung sein Leid. Neben den auslösenden Ursachen, von denen ich weiter oben schon eine Vielfalt angeführt habe, können diese Zusammenhänge das Leid und die Symptomatik verstärken.

Primärer, sekundärer und tertiärer Krankheitsgewinn

Da alle Dinge ihre Vor- und Nachteile besitzen, haben auch Krankheiten ihren Gewinn. Wegen der Vorteile können Krankheiten unbewußt gesucht werden. Eine solche Unterstellung wird selbstverständlich der Kranke weit von sich weisen. Schließlich leide er schon genug unter seiner Krankheit und wird nicht noch sein Leiden suchen. Es ist meist auch sicherlich keine bewußte Krankheitssuche, sondern es geschieht  mit ihm, ohne daß er die Krankheit direkt sucht. Die meist unbewußten Vorteile tragen zur Fortsetzung und Stabilisierung der Krankheit bei.

Unter primärem Krankheitsgewinn verstehe ich, daß unangenehme Inhalte und Gefühle von Angst, Scham oder Wut, die unangenehm und bedrohlich wahrgenommen werden, nicht gespürt werden. Etwa kann Wut zu unangenehmen zwischenmenschlichen Konflikten führen, und die Gefährdung der Beziehung bis zum Beziehungsverlust wird gefürchtet. Wut führt zur Verlustangst oder etwa zur Scham, wegen solcher Kleinigkeiten wütend zu werden. Der Gewinn der Nichtwahrnehmung der unterdrückten Gefühle hat die Nachteile der Krankheit zur Folge.

Unter sekundären Krankheitsgewinn verstehe ich, daß aus den Folgen der Krankheit Gewinn geschöpft wird. Ein Kranker mit Rückenbeschwerden wird etwas von der Last der Arbeit befreit, arbeitsunfähig geschrieben. Er wird vom Arbeitsstreß befreit und kann sich ausruhen. Weiterhin kann er seinem Vorgesetzten heim zahlen, daß dieser ihn überfordert und wenig Rücksicht auf ihn genommen hat. Rache ist süß und schmeckt gut. Ein Migränekranker kann sich vor allem im verdunkelten Zimmer zurückziehen. Das Umfeld kann keinerlei Leistungen von ihm abfordern. Wenn schon auf seine oft unausgesprochenen Wünsche nicht eingegangen wird, so werden die anderen in ihren Wünschen leer ausgehen, wofür er es ihnen heimzahlt. Oft wird Zuwendung, Pflege und Anteilnahme erfahren, besonders dann, wenn dies in der Kindheit der einzige Weg war, Liebe und Zuwendung zu erfahren. Bedrohlich gefürchtete Einsamkeit kann etwa im Krankenhaus aufgehoben werden. Ein Kind mit Übelkeit und Kopfschmerzen braucht nicht in die gefürchtete Schule zu gehen. Krankheiten können Rechte und Wert vermitteln. Eine zerstrittene Gemeinschaft wird auch für den Kranken in eine harmonische und fürsorgliche umgewandelt. Der meist unbewußte Versorgungswunsch spielt bei Krankheiten eine Riesenrolle. Dazu können praktisch unendlich viele Beispiele angeführt werden, so viele, wie es Kranke gibt.

Unter dem tertiäreren Krankheitsgewinn verstehe ich die Folgen und Vorteile für Dritte. Eine Mutter oder ein Ehepartner kann in der Obhut und Pflege des Kranken Aufgabe und Erfüllung finden. Ohne diesen Sinn sähe sich der Dritte der Leere und Inhaltslosigkeit seines Lebens ausgeliefert. Durch die Pflege kann der Kranke sozusagen zu weiterer Krankheit verführt werden. Beide Seiten können sich in ihrem Lebenssinn bestätigt sehen. Dieser Gewinn tritt ein, wenn das Kind sozusagen, wie oben beschrieben, gelernt hat, sich zum eigenen Wohlergehen, um eine eine gute, ausgeglichene Mutter zu erhalten, was später wiederum sein Leiden beinhaltet, aufzuopfern. Im Christlichen Mythos hat Gott sein Leben für das Wohlergehen der Menschheit aufgeopfert und wird dafür gefeiert. Ähnliche Inhalte spielen sich wohl auch bei Selbstmordattentätern ab, wofür ihnen im Himmel 77 Jungfrauen versprochen werden, die keine Periode und Migräne haben. Periode und Migräne der Frauen scheinen nicht nur für islamische Männer ein große männliches Problem darzustellen.

Wie die Traumatisierung beim PTBS aufweist, können auch kindliche Traumatisierungen Krankheiten zur Folge haben über die gesamte Krankheitspalette. Typische Zusammenhänge möchte ich an dem modernen bzw. modern diagnostizierten Krankheitsbild des so genannten Aufmerksamkeitsdefizit- und Hypermotilitäts- Syndroms (ADHS) veranschaulichen. Wenn etwa die Mutter oft innerlich und/oder äusserlich abwesend ist oder dem Kind in Spannung und Unruhe zugewandt ist, bzw. beides abwechselnd, also nicht auf das Kind in adäquater Aufmerksamkeit bezogen ist, überträgt sich diese Spannung auf das Kind und es befindet sich in einem Zustand von Unruhe und Spannung ständig und voller Unruhe auf der Suche nach innerer Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit. In dieser Unruhe und Spannung wird es eventuell aggressiv. Selber in Unruhe wird die Mutter naturgemäß ebenfalls unruhiger oder etwa aggressiv auf das Kind, sodaß sich dieser Zustand auf Gegenseitigkeit steigern kann. Da diese Mütter Ursache und Schuld gleichsetzen, nicht zwischen Ursache und Schuld unterscheiden  können, daß sie zwar Ursache, aber nicht schuldig sind, weil sie es nicht besser wissen. Zur Entlassung von der Schuldfrage haben findige Neurologen die Erklärung in den Genen gefunden. Ohne diese Entlastung würde die Mutter durch die Schuldzuweisung vermehrt unruhig und gespannt und ihr Kind anstecken, sodaß der Kreislauf verstärkt würde. In dieser Situation helfen paradoxerweise Psychostimulanzien, deren Umsatz in den letzten Jahren massiv gesteigert wurde. Die Entlastung von der Schuld gilt ebenso für Nachfolgererkrankungen wie gehäufte Ängste, Depressionen und Alkoholismus. Ein ähnlicher Kreislauf spielt sich in bei der Neurodermitis und allergischen Diathese ab.

Die aufgrund der Bilder und Bedrohungen erzeugten Spannungen wirken sich beeinträchtigend auf jeden Fall auf das Immunsystem aus. Man spricht von Psychoimmunologie. Aufgrund des geschwächten Immunsystems besteht eine allgemeine Krankheitsanfälligkeit.

Inwieweit bestimmte Bilder, Hintergründe und Zusammenhänge sich auf den Körper auswirken, ist in der Körpersprache und im Volksmund fest gehalten. Leider wird dieser Zusammenhang aus den oben angeführten Gründen an den Universitäten wenig oder nicht gelehrt. Ich nehme an, daß bei den so genannten Immunkrankheiten, auch Autoaggressionskrankheiten genannt, wie der Name schon sagt unterdrückte Aggressionen im psychosozialen Kontext eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Aggressionen wenden sich gegen den eigenen Körper.

Inwieweit spezifische Bilder eine ausschlaggebende Rolle spielen, ist den meisten Fällen nicht nachvollziehbar, da sie unbewußt sind. Ich selbst neigte eine zeitlang zu Magenbeschwerden und konnte dabei gut den Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Wahrnehmung wahrnehmen. Manchmal spürte ich ein bestimmtes inneres Bild bzw. inneren Vorgang und Magenbeschwerden traten auf. Manchmal spürte ich, da war etwas gewesen, aber ich wußte nicht mehr was, und manchmal traten sie anscheinend grundlos auf. In dieser magenempfindlichen Phase meinte ich sogar den Magenkranken an meinem eigenen Magen und Magendruck zu verspüren.

Patienten mit Ängsten sprechen oft von normal und in der Man-Form. Dauernd fällt das Wort normal oder man. Sie sprechen nicht von sich selbst, sondern allgemein mit man. Wenn Ängste auftreten, fragen Sie sich nicht nach sich selber, sondern ob diese Reaktion normal oder angemessen sei. Sie halten ja ihre Ängste selber nicht für normal und situationsangemessen und nicht zu ihrer Persönlichkeit passend. Diese Patienten sind sozusagen zu Angst erzogen. Sie klammern sich zur Angstvermeidung an ihre Vorstellung von Normalität, das heißt etwa die Meinung der anderen, der Nachbarn und der Leute, es diesen recht zu machen, deren Erwartungen zu erfüllen, wobei ihre eigenen Erwartungen und ihr Weltbild dahintersteht. In der Bedrohung können sie die zwischenmenschlichen Unterschiede, Subjektivitäten und Individualitäten nicht wahrnehmen. Sie neigen zu einem Digitalen Dialog.

Im folgenden einige Beispiele, inwieweit die Symptomatik in Aussagen, Bildern oder Träumen fest gehalten wurde. Diese Beispiele sind weitgehend unbewußt und haben für die Patienten auch keine therapeutische Relevanz.

So schilderte etwa ein an Priapismus (schmerzhafte Gliedsteife) Erkrankter in einem Wortschwall so nebenbei, ohne daß ihm dies bewußt war " ich denke nicht an eine andere Frau, ich bleibe meiner Frau treu ". Er ging aus der Klinik genau so wenig problembewußt, wie er gekommen war.Ein Zusammenhang und der Hintergrund wäre für ihn zu bedrohlich gewesen, etwa Seitensprünge wären für seine Ehe in seinen Augen der Bruch gewesen und der Verlust seiner Ehefrau. Einen etwaigen Gewinn sah er nicht. Oder das ständige Zeigen seines Stärkesymbols hätte auf seine Ängste, Abhängigkeit und Subdominanz verwiesen - deswegen die Dominanz verdeckt in der Hose - , für ihn eine Schmach, schlimmer als die Beschwerden und Schmerzen, sodaß man das Symptom noch als gelungenen Ausweg sehen könnte. Andererseits ist dies ein gutes Beispiel, wie die unbewußten Zusammenhänge unbewußt verbal ausgesprochen werden. Psychotherapeuten haben ja gelernt, bei solchen Mitteilungen besonders gut zu zuhören und werden deshalb gefürchtet.

Bei Krebskranken habe ich zwei Aussagen und Zusammenhänge in Erinnerung: Eine Bekannte schilderte mir einen Traum, wobei sie auf einer Seefahrt sämtliche weiblichen Attribute über Bord warf. Bald darauf wurde sie an Brustkrebs und anschließend an Unterleibskrebs operiert. Später auf ihren Traum angesprochen, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Ein früherer Patient, als Sozialarbeiter arbeitend, dem ich nach meinem Eindruck wenig helfen konnte, schilderte mir wiederholt in meinen Augen merkwürdige, teilt makabre Tagträume. Einer ist mir noch in guter Erinnerung. Er sah den menschlichen Zusammenhang so, daß die Menschen im Kreis stehen und einer den Kopf in den Arsch des anderen steckte. Ein paar Jahre später rief er wegen eines anderen Grundes an und erwähnte nebenbei, daß er an einem Nasenkrebs operiert sei. Ich dachte spontan " kein Wunder bei seinen Gerüchen, die er auszuhalten hat ". Auf seinen früheren Tagtraum angesprochen, hatte er natürlich keinerlei Erinnerung.

Eine frühere Patientin hatte immer bei der Periode Schmerzen. Dabei hatte sie Krebsängste. Zur Vorgeschichte schilderte sie, sie habe sich mit ihrem damaligen Freund ein Kind gewünscht. Dann sei jedoch in ihr das bild aufgetaucht " ewige Fürsorge und Aufopferung! " und sie habe sich sofort von ihrem Freund getrennt und einen sterilisierten Mann geheiratet. Ich assoziierte dazu, das Kind sei für sie wie ein Krebs, der sie von innen sozusagen auffrißt. Sie war auch der Meinung, daß Krankheiten in der Familie gemeinsam auftreten. Also hatte sie Krebsangst, als ihre Tante an Krebs erkrankte. In ihrer Kindheit hatte sie die ewige Fürsorge und Aufopferung durch die Muter und sich selbst erlebt. Wenn es ihrer Mutter gut gegangen sei, habe sie sich sofort eine überfordernde Aufgabe gesucht, mit Rückenbeschwerden reagiert, sodaß ihr die Tochter, die Patientin, die Arbeit abnahm und selber mit Rückenbeschwerden und Asthma reagierte. Dies ist auch ein gutes Beispiel für die verbreitete Symptomgemeinsamkeit, die sich Organmediziner durch die Veranlagung erklären.

Diese Beispiele zeigen, das derartige Aussagen, Bilder und Träume äußerst flüchtiger Natur sein können, aber trotzdem aus dem Unbewußten heraus eine tragende Rolle spielen. Sie entsprechen etwa Träumen, die kurz nach dem Aufwachen meist sofort vergessen sind. Sie werden meist zufällig ausgesprochen und sind Dritten mehr erinnerbar als den Patienten selbst. Psychotherapeuten sind ja meist geschult, auf derartige Aussagen oft in Nebensätzen zu achten.

Im bedrohlichen Angstgeschehen spielen die Verschiebung und Symbolik eine tragende Rolle. Die Platzangst in engen Räumen, Fahrstühlen, Kinos oder unter Menschen kann die Enge des eigenen Lebens in rigiden Normen, Regeln und Ansprüchen an andere Menschen und insofern das Eingezwängtsein zwischen den Menschen widerspiegeln. Ein Mensch, der allen gerecht zu werden, aller Erwartungen zu erfüllen versucht und ansonsten bedrohliches fürchtet, hat für sich selbst keinerlei Spielraum und Freiheit. Spinnenangst kann das Eingewobensein bei anderen, die mangelnde Selbstbehauptung und Selbstabgrenzung und dadurch das Aufgefressenwerden von anderen, ursprünglich meist der Mutter, symbolisieren. Die Angst vor Krankheitserregern wie Viren und Bakterien mag das Eindringen anderer in die eigene Person bedeuten. Ich erlebe oft genug Patienten, die mir nicht die Hand geben wollen, wenn sie erkältet sind, weil sie fürchten, mich anzustecken. Ebenso fürchten sie die Ansteckung durch andere. Ähnliches findet bei der Angst vor Schlangen statt. Weiterhin kann das Eindringen des Penis zur Symbolik und die Bedrohung der Männlichkeit hinzu kommen. Bei der Höhenangst werden die eigenen hohen Ansprüche an die eigene Person und der prophezeite Absturz gefürchtet.

Bei den häufigen Ängsten vor dem Schwitzen oder Erröten, die Erythrophobie, wird gefürchtet, aufzufallen, sich bloß zu stellen und zu offenbaren, daß der wahre innere Kern, das eigene Selbst zu Tage tritt, oder überhaupt, das etwas nicht stimmt. Dann könnten Fragen kommen, was denn los sei, auf die man keine Antwort weiß. Der Kranke wird mit seinen Zwang zur Ehrlichkeit konfrontiert oder Ausreden zu erfinden. Meist wird das eigene Versagen, die Peinlichkeit und Bloßstellung gefürchtet. Zureden und der Versuch der Klarstellung, daß gerade durch die Angst das Schwitzen entsteht, und die Aneignung der Bedeutung, daß Schwitzen nichts bedrohliches und schlimmes, sondern etwas natürliches sei, dadurch keine Angst und Schweiß entstehen müsse, nützen gar nichts, weil dahinter ein rigides und eingeprägtes Weltbild des eigenen Versagens und der Peinlichkeit steckt.

Bei der Phobie findet eine Verschiebung des eigenen Selbst in Orte, Situationen, Symbole und Personen statt. Dabei wird die Vergangenheitserfahrung und dadurch die erworbene inneren Realitäten in der Zukunft gefürchtet. In generalisierten Ängsten kommen ubiquitäre Bedrohungen und unerfüllte Ansprüche zum Ausdruck. Umschriebene Ängste nennt man Phobien. Bei ihnen wie bei der auf den Körper verschobenen Körpersprache, der Konversionsneurose, könnte man auch von Ausdruckskrankheiten, wie etwa bei dem Beispiel des Priapismus, sprechen.

Außerdem spielt bei Krankheiten eine Art Input - Outputverfahren oder Geben und Nehmen wie bei einer kaufmännischen Bilanz eine tragende Rolle. Unbewußt sagt der Kranke etwa " ich war immer für die anderen da, habe deren Erwartungen erfüllt und meine Erwartungen werden nicht erfüllt ". Er hat sich für andere aufgeopfert und der Lohn bleibt aus. Der Kranke hat sich nach seinen Normen, Selbstverständlichkeiten verhalten, aber andere haben sich nach anderen Maßstäben verhalten, so daß er nicht das Gleiche zurückbekommt. Er erlebt dies als Ungerechtigkeit, die Wut erzeugt. Aus einer anderen Sicht, nämlich der des anderen, könnte man die Beziehung wahrnehmen, daß er durch Vorleistungen andere zu manipulieren versucht. Da der Andere durch Vorleistungen sich sozusagen in die Pflicht genommen und manipuliert fühlt, wird er zur Selbsterhaltung die Neigung haben, erst recht nicht auf die Ansprüche einzugehen. Die Tragik des Gebenden ist, daß seine Wünsche gerade durch das Geben nicht erfüllt werden. Der Schleimscheißer weiter oben ist ein gutes Beispiel. Die unterdrückten Ängste und Aggressionen wirken sich krankheitsauslösend aus. Etwa beansprucht der Magenkranke durch die Versorgung anderer die eigene Versorgung. Sein hineingefressener Ärger kann u. U. ein Loch in die Magenwand hinein fressen, das Ulcus. Viel Versorgung und Bemühungen um seinen Magen können ihn heilen. Wenn dies jedoch nicht ausreicht und er weiterhin zwischenmenschlich frustriert bleibt, kann das Geschwür sich fortfressen. Wenn der Gebende durch seine Gabe sich selbst etwas schenkt, etwa die Freude des Gebens oder die eigene Freude an der Freude des anderen, und nicht die Rückgabe und damit die Abhängigkeit vom anderen sucht, findet ein innerer Ausgleich statt.

Fallbeispiele

Im Folgenden möchte ich einige Fallbeispiele aus jüngster Zeit erzählen und dabei teilweise einzelne Punkte besprechen. Teils enthalte ich mich der Kommentare, weil sie meiner Ansicht nach für sich selbst sprechen.

Bei meinen Geschichten über Patienten möchte ich die innere Preduille eines Patienten darstellen: Ihm fiel auf, daß er sich innerlich sträubte und monatelang heraus schob, eine Zusatzrentenversicherung abzuschließen, obwohl er dies eigentlich für sinnvoll und vernünftig halte, da er sonst auf den Zuschuß des Arbeitgebers verzichten würde. Er kommt darauf, daß sein Verhalten mit dem Druck und dem Zwang zum Guten und Vernünftigen zu tun habe. Dann spiele sich ein innerer Kampf hat, er sei wütend auf sich selbst, daß er nicht vorwärts komme. Das sei, als könne ihm nicht Schlimmeres passieren, als wenn es jemand gut mit ihm meine. Auch die Arbeit und viele andere Bereiche, in denen es um das Gute und Vernünftige gehe, sei wenig seine Sache, der Lohn sei wie der Lohn für Wohlverhalten und Anpassung. Automatisch begegne er allen mit Mißtrauen, die es gut mit ihm meinen, weil sie von ihm etwas verlangten. Er habe von seiner gutmeinenden Mutter den Glauben übernommen, sonst passiere etwas schlimmes. Das stände wie eine Drohung dahinter. Er fühlte sich als Person nicht akzeptiert, sondern habe sich den Anforderungen nach so zu verhalten. Bei einer näheren Betrachtung ist es ihm durch den Druck und die Drohung nicht möglich, also dem erzeugten Gegendruck, einen inneren oder äußeren Dialog zu führen oder abzuwägen, etwa daß es seine Entscheidung sei, ob er jetzt oder später mehr Geld habe, die Hinweise anzunehmen, daß er später im Rentenalter auch noch Bedürfnisse habe, sich etwas gönnen oder überhaupt nicht nur äußere Armut präsentieren wolle. Die Quelle seiner Angst sei die Angst der Mutter, und dann sei er auch noch selbst schuld. In seiner inneren Lähmung richten sich seine Aggressionen auf die eigene Person im Sinne der verinnerlichten Mutter und nicht auf die Mutter.

Für eine Patientin gilt das eherne Gesetz, gesagt ist gesagt, daran ist nicht zu rütteln und nichts zu ändern. Daß es nicht so gemeint sein könne, also verschiedene Auffassungen über das Gesagte herrschen können, das gibt es nicht. Infolgedessen hatte sie große Angst vor ihren Aussagen, überhaupt etwas zu sagen, da sie überall fürchte, daß ihr daraus ein Strick gedreht wird. In ihrer Kindheit war ihr das oft genug widerfahren. So kann sie ihre Interessen und Belange nicht aussprechen und wahrnehmen und ist vielfach frustriert. Die Worte und Sätze kann sie unterdrücken, aber vielfach ihre Blicke nicht, sodaß sie mit Blicken häufig etwas auszusetzen hat, aber ihre Kritik nicht aussprechen kann. Mir fällt auch in der Therapie auf, daß sie einen kritischen herabsetzenden Blick auf meine Kleidung wirft. Bei Ihrem Partner führt das oft zu Konflikten, weil sie etwas an ihm auszusetzen hat, aber nichts sagt. Das habe sie von ihrem Vater, ihr Bruder sei ähnlich.

Inwieweit das Wort und die Aussage über alle Zeiten und Umstände gültig ist, möchte ich an dem Beispiel eines Jugoslawen veranschaulichen. Er konnte wegen Examensängsten nicht sein Studium vollenden: Sein Vater hatte ständig Freundinnen und bezichtigte projektiv seine treue Ehefrau der Untreue. Schließlich trennte er sich und heiratete eine Andere. Die beiden Söhne konnten nicht die Mutter in ihren Augen und ihres sozialen Kontextes im Stich lassen, mußten sich um sie kümmern. Er konnte sich dadurch nicht beruflich verselbständigen. Als ich meinte, jetzt sei doch die Mutter frei und könne sich nach einem neuen Mann umsehen, dann wären auch die Söhne frei , antwortete er, "das würde die Mutter nie tun, dann hätte der Vater recht gehabt! ". Die Gesetze waren so ehern, daß er bald die Therapie abbrach. Irgendwo hatte er unbewußt erkannt, daß eine Loslösung therapeutisches Ziel gewesen wäre und seine Schuldgefühle gefürchtet, die ebenfalls über alle Zeiten und Umstände hinweg ihn nie losgelassen hätten. Da war es schon besser, sich um die Mutter zu kümmern, auf eigene Lebensziele zu verzichten und sich evtl. von ihr versorgen zu lassen.

Über die enge Beziehung zur Mutter trotz erheblicher Distanzierung und das Auftauchen alter Szenen möchte ich an zwei Patientinnen mit Bulimie (Freß- und Kotzsucht) darstellen: Die Mutter hatte angerufen und betont, ihr gehe es gut. Die Patientin war sofort mißtrauisch. Weiterhin schilderte die Mutter, die Tante O. sei depressiv mit der Bemerkung "es gibt Menschen, die Trauer nicht verarbeiten können!". Für die Patienten war das Humbug. Ihre ganze Kindheit war damit überschattet, daß die Mutter den Tod des Sohnes als Säugling nicht überwinden konnte. Sie wolle ihre Mutter los sein, dann setze sie aber eins drauf und fahre mit Rachegelüsten hin. Sie sei so bösartig, daß sie der Mutter zwei Tage bereiten wollen, die diese so schnell nicht mehr vergessen werde. Die versteckten Hinweise ihrer Mutter über andere Personen und der Auftrag, sich um sie zu kümmern, waren ihr wohlbekannt, und hatten solche Wut, Schuldgefühlen und Rachegelüste provoziert, daß sie mit einem Freßanfalle reagieren mußte.

Die andere Patientin berichtete über zwei Tage Freß- und Kotzanfällen. Das Leben hätte sich nur um den Kühlschrank gedreht. Sie wundere sich, wie sie dabei überhaupt ihr Studium geschafft habe. Zufällig kam heraus, daß die Mutter angerufen hatte, einmal nur schwer atmete, und die Patienten sofort den Hörer hin geknallt hatte. Die ganze frühere Szenerie der Vorwürfe und Anschuldigungen seien aufgetaucht " du machst mir das Leben so schwer " und sie habe vor Wut nur gefressen und gekotzt. Bei späteren Berichten von solchen Anfällen wußte ich sofort, eher als sie, die Mutter hatte wieder angerufen. Erst allmählich kam die Patientin auf den Zusammenhang zur Mutter.

Eine Patientin, deren Kind während der Schwangerschaft nach einer Amnioskopie gestorben war, war danach in tiefer Depression versunken. Sie machte sich schwere Selbstvorwürfe und kreidete sich als Riesenfehler an, daß sie diese Schwangerschaftsuntersuchung habe durchführen lassen. Als weiteren Hintergrund schildert sie ihre Schuldgefühle, daß sie überhaupt diese Untersuchung habe machen lassen. Bei einer Fehlbildung hätte sie das Kind abtreiben können, für sie Mord. Sie führt andere Frauen an, denen es ähnlich erginge. Inzwischen nach längerer Therapie gebe es nichts mehr, was sie sich nicht verzeihen könne außer dieser Sache. Das sei nicht wieder gut zumachen. Das Leben sei etwas so zerbrechliches, das sei unfaßbar, unglaublich, wie viel schief gehen könne und sie wundere sich, daß vieles so gut gehe. Wenn andere ihr erklärten, das sei doch nicht ihre Schuld, fühle sie sich nicht ernst genommen. Sie fühlte sich so verunsichert, daß ihre Wahrnehmungen nicht stimmte und ihr abgesprochen würde. Früher hatte ihre Mutter zu ihren Wahrnehmungen gesagt, daß stimme nicht. Die Mutter nehme nicht wahr, wie sehr verletzend sie sein könne. Langsam realisiert sie, daß sie ihre Schuldgefühle nicht überwinden könne, weil sie auf der Anerkennung ihrer Wahrnehmung beharrt. An diesem Beispiel wird für mich mehreres deutlich. Zum einen sieht sie eine Welt, in der alles schief geht. Eine Welt, in der vieles glatt und problemlos gehe, ruft Verwunderung hervor. Die Verwunderung weist auf die neue Realität in, die von ihr akzeptiert wird. Schief geht, sie hat überall Schuldgefühle und bemüht sich um Wiedergutmachung. Erholung und ausruhen gibt es für sie nicht. Das Leben wird für sie hektisch und anstrengend. Zum anderen beharrt sie trotz ihres eigenen Schadens zur Selbstbehauptung auf dieser Wahrnehmung, obwohl andere sie durchaus zu entlasten versuchen. Einmal im Leben will sie recht haben. Im Verlauf der Therapie hatte sie inzwischen mehr Verzeihlichkeit entwickelt, aber an dem einen Punkt blieb sie standhaft. Noch weniger vermittelbar war ihr, daß sie evtl. das Kind aufgrund ihrer ständigen Schuldgefühle und Überlastungen unbewußt hätte loswerden wollen, um so mehr, wenn es behindert gewesen wäre.

Ein Patient beginnt die Stunde, er habe keine Lust irgendetwas zu erzählen, weil er erzählen müsse und das bedeute Anstrengung. Das gehe ihm so auf den Keks, weil er bei sich selbst sowieso jeden Mist durchkauen müsse z. B. bei einer Einladung zu einer Party, was dies für eine Bedeutung habe, wer da sei, die oder den er nicht möge, ihm etwas übel nehme, was Böses gesagt werden könnte, dann müsse er sich mit jedem anlegen und Paroli bieten. Das seien lauter Ahnungen, daß etwas passiere. Dann könne er die Einladung nicht genießen und sie sei so anstrengend. Er wolle sich nicht ständig kontrollieren. Deswegen neige er zum Rückzug, aber dann habe er keinen Realitätsvergleich mehr und wolle sich deswegen nicht mehr zurückziehen.. Einer Frau, die ihm gefalle, könne er nicht in die Augen sehen, während er von anderen sich tot labern lasse. In für ihn interessante Frauen lege er Ansprüche hinein, denen er dann nicht entsprechen könne. Ständig mache er sich Vorwürfe, ob er etwas falsch gemacht habe, und wenn er sich so seine inneren Dialoge anhöre, dann könne das alles nicht wahr sein. In der Therapie hatte er seine inneren Leben mehr kennen gelernt. Er leidet unter seinem Rückzug, depressiven Verstimmungen und vor allem Rückenbeschwerden, sodaß er manchmal stundenlang auf dem Boden flach liegen müssen. Während der Therapie war er stark auf ein Rückentraining fixiert, wobei seine Schmerzen durch die bemühte Überanstrengungen sich noch verstärkten. Beim Anhören seine inneren Szenerien und Ketten in vielen Situationen ging er mir naturgemäss genauso auf den Keks, sodaß ich am liebsten nichts mehr gehört hätte. Mir erging es ähnlich wie ihm. Beim Hinausgehen sah ich wiederholt seinen besorgten Blick, den ich als den seiner Mutter interpretierte. Seine Mutter war in seiner frühen Kindheit mehrfach wegen Depression in der Klinik und sein Vater hatte Selbstmord begangen.

Ein Patient hatte, nachdem seine Freundin sich von ihm trennte, einen Selbstmordversuch unternommen. Beide hatten sich gefunden und ihre Liebe erklärt, weil sie jeweils aus einer unerfreulichen langjährigen Beziehung den anderen als Sprungbrett zur Loslösung benutzten. Sie hatte ihren Bekanntenkreis erweitert und ihn nicht mehr nötig gehabt. Seine Wut, ihn einfach zu verlassen, wo er doch so viel Liebe investiert hatte, mußte er zur Erhaltung der Liebeshoffnung unterdrücken und gegen sich selbst wenden. In einer neuen Beziehungsannäherung sei er gleich mit der Tür ins Haus gefallen und habe seine Liebe erklärt und dadurch die potentielle Partnerin weg geekelt. Das verstehe er nicht, weil ihm das immer wieder passiere. Wir besprechen, daß er gerade durch den Anspruch der hundertprozentigen Treue, sozusagen die Katze im Sack zu kaufen und sich in ein Treuegefängnis zu begeben, Frauen auf Abstand halten müsse. Den Frauen wird dieser Anspruch zu viel und sie müssen sich zu ihrer eigenen Befreiung trennen, sodaß seine Klammer- und Vereinnahmungsversuche sozusagen ein Wegstoßen bedeuten.

Eine Patientin war aus Ostdeutschland nach Frankfurt gekommen, weil sie ein neues Leben anfangen wollte. Schon nach wenigen Tagen sei sie wegen ihrer Schuldgefühle in Depression versunken und habe sich schwer zusammenreißen müssen, um nicht zu fressen. Sie wolle endlich selbstständig werden. Ihr Ehemann habe ihr immer alles abgenommen in, sei so lieb gewesen, er sei viel zu gut für sie. Aus dieser Abhängigkeit wolle sie raus. Von ihrer Mutter berichtete sie, dort habe es nur Schelte und Haue gegeben, sodaß sie ihrer Mutter schon von den Augen abgelesen habe, was diese wolle, um wenigstens ein bißchen Liebe zu erhalten. Auch habe sie die Mutter viel zu anderen Leuten gegeben, zu den Großeltern, in eine Kinderkrippe und vorüber gehend zu Pflegeeltern. Von vier bis sechs sei sie von einem Bekannten der Eltern sexuell mißbraucht worden. Anfangs habe sie davon erzählt, man habe ihr nicht geglaubt. Es hieß, sie träume. Daraufhin habe sie nichts mehr gesagt. Erst mit 10, als ihre Oma ihr von der schrecklichen Beziehung zum Opa erzählt habe (11 Kinder, eine davon die Mutter), habe sie Mut gefaßt und ihr erzählt. Für die Eltern sei eine Welt zusammengebrochen, welche Schande! Daraufhin sei es zu einer Gerichtsverhandlung und zur Verurteilung des Mannes gekommen Trotzdem sei sie im Umfeld, in der Schule und Bekanntschaft verunglimpft worden, man habe sie als Verführerin angesehen und von seiten der Verwandten ihres Mannes hieß es" mit so einer wolle er sich einlassen!". Für sie sei danach im Kopf gewesen, sie müsse besonders gut, dankbar sein, weil sie Schande bereite. Ihr Mann habe alles abbekommen. Jetzt sage ihr Mann, Tochter und Mutter, sie haben sie lieb. Das sei unerträglich. Wir sprechen darüber, daß die Liebe und Treue ihres Mannes seine Waffe seien, um bei ihr Schuld zu erzeugen und sie zu binden. Sie würde ihrer Mutter verzeihen, wenn sie einmal sagen würde, daß es ihr leid tue, was passiert sei. Bei neuen Bekanntschaften habe sie das Problem, daß sie die Männer manipuliere. Sie entwickle sich leicht zu einer Nervensäge, wolle vom anderen wissen, ob es ihm in der Liebe genauso gehe wie ihr, damit sie wisse, wo sie dran sei. Der Mann sage daraufhin gar nichts. Sie habe ihm vorher auch erklärt, sie wolle ihn nicht heiraten, sie wisse nicht, was Liebe ist. Sie habe im Kopf, Männer wollen nur daß Eine. Zu ihrer Tochter sei sie auch ein Tyrann gewesen, obwohl sie alles besser machen wollte. Sie haben sie kaum berühren können, wenn diese sie trösten wollte, habe sie weggestoßen und habe sie erst anfassen können, wenn diese schlief. Sie verabschiedet sich mit den Worten, " hoffentlich könne sie es zu hause sagen, wenn ihr Mann sage, er liebe sie, er warte und sie wolle ihm keine Hoffnung machen ".

Ein schwer gestörter Patient nach langer stationärer und ambulanter Therapie suchte seine Mutter auf anläßlich ihres Geburtstags. Dabei wurde ihm klar, daß er bei ihr sehr gehemmt war, weil er zu viel Enttäuschung, Schmerz und Wut spüre. In ihm tauche eben gerade ein bild auf, das eines freudigen Kleinkindes, daß auf die Mutter zukomme und von ihr abgelehnt werde. Es treffe auf Sorgen, Ängste und das immer wieder, reagiere mit Rückzug, mußte sich anpassen und verlor sich selbst dabei. Wie in seinem sonstigen Leben gucke er auch immer bei mir, was ich mache, wie ich reagiere. Dabei suche er immer Bestätigung, daß er sein darf. Langsam wachse jedoch sein Selbstvertrauen und dabei spüre er den Schmerz über seine Täuschungen, Enttäuschungen und Illusionen, daß vieles gar nicht so sei und er eigentlich gar nicht so handeln müsse. Diese Desillusionierung tue noch mal weh. Er erlebe dies, als ob ihm die Augen aufgehen und sich entspannen, weil er sonst unter völlig verspannten Augen leide. Durch die Entspannung gewinne er mehr räumliches Sehen, nehme mehr Tiefe war. Ein trotziger Teil in ihm beharre jedoch auf die Bestätigung bei anderen. Trotzig, weil er fordere, ihr müßt mir das geben, ich habe ein Recht darauf. Das sei wie ein Versprechen, das eingelöst werden müsse, da er sich immer angepaßt habe, um der Mutter keine Sorgen und Ängste zu bereiten. Schließlich habe er sich doch richtig verhalten. Für sich selbst würde er jedoch abgelehnt. Wut und Trotz wolle er sich nicht nehmen lassen, weil er nie ein Recht darauf gehabt habe. Objektiv habe er nie einen Grund gehabt. Was die Eltern sagten, sei für ihn objektive Wahrheit gewesen. Wenn sie sagten, da war nichts, dann war nichts. Daraufhin sei sein Trotz latent geworden, seine Wahrheit durfte nicht sein, die andere war stärker. Das fresse und nage an ihm, mache ihn krank. Was andere sagen und denken, ist stärker, wahrer und objektiver. Das sei wie das uneingelöste Versprechen der Mutter, nun sei alles gut. Wenn er sich vorstelle, er spreche sich mit der Mutter aus, versöhne sich, dann sei alles wieder beim alten, er gebe sich wieder auf. Infolgedessen habe er das Gefühl, er stehe immer in Kampfsituationen, während er nach außen ganz brav und friedlich wirke.

Vorher hatte er berichtet, mit anderen in Widersprüchen, anderer Meinung als diese zu sein, rufe für ihn gleich eine existentielle, lebensbedrohliche Angst hervor, total alleine und ausgestoßen zu sein. Er tue alles, um diese Angst nicht zu erleben. Dazu müsse er stark sein, sich ja nichts anmerken lassen, alles alleine schaffen, auch hier in der Psychotherapie, verbunden mit der Angst zu versagen. Das sei fürchterlich anstrengend. Hilfe lehne er ab, weil er falsche Hilfe fürchte, wie er bei der Oma erlebt habe. Das habe ihn noch mehr reingeritten, ebenso sein Versuch mit der Religion nach der Pubertät.

Nach 14 Jahren Kontaktunterbrechung nahm die Mutter schwerkrank und den Tod im Angesicht wieder Kontakt zu ihrer Tochter auf. Diese gerät in tiefe Zerrissenheit. Einerseits wünschte sie wieder einen harmonischen Kontakt zu ihrer Mutter und wollte sich wieder mit ihr versöhnen, andererseits war ihr klar, daß dies nur unter der Bedingung der Mutter geschehen könne, daß eitel Harmonie herrsche und keinerlei Zerwürfnisse zur Sprache kämen. In ihrer inneren Zerrissenheit schrie sie fast. Einer von vielen Anlässen von Wahrnehmungsunterschieden war, daß die Tochter meinte, die Mutter habe den Kontakt abgebrochen und die Mutter sah das umgekehrte. Ihr die Wahrnehmung abzusprechen, war für die Tochter das Schlimmste, sicherlich umgekehrte für die Mutter ebenso.

Inwieweit ein kleiner organischer Befund bei einer schwer psychisch kranken Patientin zu Stabilisierung führte, dazu habe ich ein eindrucksvolles Beispiel in Erinnerung. Als ich in meiner Weiterbildung in der Psychiatrie arbeitete, hatten wir eine schwer depressive Langzeitpatientin auf der Station, die wegen ihrer so genannten Jammerdepressionen unerträglich war und von allen gemieden wurde. Eines Tages hatte sie ein gut erbsengroßes harmloses Geschwulst am Hals, das operativ entfernt wurde. Von einem Tag auf den anderen war der Patientin völlig normal, unauffällig, total verändert. Als jedoch nach einer Woche die Fäden entfernt waren, war wieder der alte Zustand. Offenbar fühlte sich die Patienten endlich als Kranke akzeptiert und war dadurch völlig stabilisiert, und als die Fäden gezogen waren, fühlte sie sich wieder mißachtet, so wie in ihrem gesamten bisherigen Leben. Ihr fortwährend unerträgliches Klagen, ihre Krankheit, betrachte ich auch also Vergeltung am Umfeld für die Mißachtung.

Früher, als ich in einer psychosomatischen Klinik arbeitete, hatte ich einen Patienten, der nach einem Schädelbasisbruch lange Kopfschmerzen hatte. Er hatte Glück, daß seine behandelnden Ärzte die Kopfschmerzen nicht mehr auf den Schädelbasisbruch zurückführten und ihn in eine psychosomatische Klinik schickten und er dies nicht, wie wohl viele es getan hätten, ablehnte. Wir konnten folgenden Hintergrund herausarbeiten: Er war ein sehr friedlicher und gutmütiger Mensch. Seine Umgebung beobachtete ihn mit Argusaugen, ob nach dem Unfall Folgen geblieben wären, und behandelte ihn mit Samthandschuhen. Durch diese Behandlung fühlte er sich nicht mehr für voll genommen, und wenn er seinen Ärger heraus ließ, hieß es "siehste, siehste, so war er früher nicht!", und er wurde noch vorsichtiger angefaßt. Um ihnen nicht recht zu geben und weil er von Haus aus ein aggressionsgehemmter Mensch war, unterdrückte er seinen Ärger und bekam Kopfschmerzen, das schmerzte ihm sehr im Kopf.

Ein Patient aus dem indischen Kulturkreis war als kleines Kind mit seinen Eltern geflüchtet, als Asylant aufgenommen worden und hatte in der Kindheit wegen schlechter finanzieller Umstände in einem asozialen Viertel aufwachsen müssen. Dort wurde er von den anderen Kindern wegen seines fremden Aussehens gehänselt und verfolgt, später von einem Lehrer gefördert, sodaß er Karriere machte

Zu Legitimationsschwierigkeiten bei funktionellen Störungen

Unter funktionellen Störungen verstehe ich Beschwerden, wo kein organischer Befund bei den üblichen Untersuchungen zu erheben ist. Sicherlich ist bei detaillierten Untersuchungen wie bildgebenden Verfahren etwas zu finden. Das wäre aber viel zu teuer. Derartige Beschwerden können sich an allen Organen abspielen. Häufig sind Rückenschmerzen und -verspannungen, Beschwerden am Herzen, im Gleichgewichtsorgan, Magen - Darm, Nieren - Blase, im Auge, in den Fingern, Händen oder Armen, im Kopf, überhaupt Schmerzzustände usw. Häufig stecken psychische und psychosoziale Konflikte dahinter - schließlich lebt der Mensch nicht auf der berühmten einsamen Insel - , obwohl er sie oft genug in seinem Verhalten sucht. Oft sind sie auch Ausdruckskrankheiten, die im Volksmund festgehalten sind.

Im mechanistischen Weltbild jedoch kann nur etwas sein, wo etwas kaputt und zu finden ist. Übergeordnete Ebenen wie der Kopf werden nicht gesehen. Infolgedessen steht der Kranke unter erheblichen Legitimationsdruck, daß seine Beschwerden überhaupt vorhanden und ernst zu nehmen sind, sowohl gegenüber seinem Umfeld, den Ärzten, seinen Angehörigen, am meisten jedoch vor sich selbst. Wenn er sich selbst ernst nehmen würde, ginge es ihm schon viel besser. Dieser Druck verschlimmert seine Beschwerden. Ernstnehmen kann sie bessern. Unter Umständen muß er durch die Verschlimmerung sich selbst und dem Umfeld erst beweisen, daß sie überhaupt vorhanden sind. Im Umfeld, das aufgrund des größeren Abstandes auch besser sehen kann, heißt es auch oft genug "das kriegt er nur deswegen...!", oder sogar noch schlimmer "das macht er doch nur deswegen...!", so als ob der Kranke seine Symptome selbst bestimmen könnte und nicht Opfer wäre - und hinsichtlich des Zusammenhangs haben sie häufig nicht unrecht. Oft gilt er als eingebildeter Kranker, Simulant, Psychokrüppel oder jemand, der sich Vorteile verschaffen möchte. - Ein kleines eigenes Beispiel: Ich stürzte mit dem Rennrad aufs Gesicht, gottseidank auf sehr weichen Untergrund. Ich verspürte noch wochenlang Schmerzen seitlich am Hals, offenbar ein kleines Schleudertrauma. Ein Schleudertrauma nach einem Verkehrsunfall kann 1 Jahr dauern, dann hat die Versicherung bezahlt. Orthopäden meinen dann, die Beschwerden seien für die Versicherungszahlungen vorgetäuscht. - Aus der frühen Kindheit muß er die Erfahrung haben, daß er in seiner Wahrnehmung nicht ernst genommen und ihm eine andere Wahrnehmung unterstellt wurde. In dieser inneren Zerrissenheit treten die Beschwerden auf. Das ist schmerzhaft.

Dazu ein Fallbeispiel: Ein Patient fiel bei der Ankündigung eines Untersuchungstermins beim Vertrauensarzt in ein Loch. Dabei stelle sich für ihn die Frage, ob er krank oder gesund sei, weil bei ihm, bei seinen Rücken- und Kopfschmerzen, Tinnitus, Schlafstörungen, Angstträumen nichts zu sehen sei. Dann sei er der Depp, Simulant, eingebildete Kranke, Weichei, Männlein. Er frage sich selber, ob er krank sei. Das tauche schon auf, wenn er gefragt werde, warum er solange nicht zur Arbeit gehe. Wenn er Rat und Hilfe suche, erwarte er etwas sichtbares wie Tabletten. Ein Gespräch sei doch nichts, dann wisse er nicht, was er mitnehmen solle. So müsse er beweisen, daß er krank sei. Wenn er sich seiner Ehefrau anvertrauen wolle, stoße er auf Ängste und Sorgen, da es ihr bei ihrer Arbeit ähnlich ergehe. Deswegen sage er meist, es gehe ihm gut.

Dieser Patient war mehrer Jahre als Kind in einem Heim gewesen und hatte dieses fürchterlich erlebt. Er spüre noch heute den Kochlöffel im Kinderheim „1 und 1 ist 2!“. Dort war ihm eine andere Realität vorgesetzt worden. Schläge und Mißhandlungen waren zu seinem Besten. Als er zu seiner Mutter zurückkehrte, litt er unter Verhaltensstörungen, sodaß er einerseits noch heute Verständnis für ihre Bevormundungen hat, andererseits sich aufregt.

In der nächsten Stunde schilderte er, daß er heute zum ersten Mal keine Bauchschmerzen gehabt habe bei dem Gedanken, zu mir zukommen. Der Therapeut könne seine Schmerzen nicht glauben, weil er Nichtsichtbares habe und simuliere. Er, der Therapeut würde davon ausgehen daß er seine Darstellung gelernt und sich angeeignet hätte. Und deshalb habe es ihm gut getan, als die Hausärztin erklärt habe, sie sehe ihm an, daß es ihm nicht gut gehe und er Migräne habe. Von seinen zwei Freundespaaren würden die einen ihn ernst nehmen, die andere nicht, sie fragten " wie lange wolle er noch krank sein? ". Wenn er im Urlaub gefragt werde, ob er in Rente oder krankgeschrieben sei, könne er sagen, er sei im Urlaub. Oder er könne sagen, er sei im Vorruhestand. Dann sei er aus dem Schneider.

Dieser Patient hatte nach seinen frühkindlichen traumatischen Erfahrungen im Kinderheim, die eigentlich gut gemeint waren, um jeden aus der zerbombten Stadt zu holen. Das Heim hat ihn so geprägt, daß er als Folge seinen Lebensweg darin wählte, sein Leben dem Heim zu widmen, dort Wiedergutmachung an anderen Kindern auszuüben, ihnen ein besseres Leben zu gewährleisten und ein besserer Betreuer sein wollte und wahrscheinlich auch war, als ihm selbst widerfahren war, ein ziemlich anstrengendes Unterfangen. Deswegen traf es ihn besonders hart, als die Heimleiterin kurz vor Erreichen des Rentenalters – so lange hatte er es ausgehalten - ihm vorwarf, er sei zu streng zu den Kindern, diese hätten Angst vor ihm und er leide unter gestörter Wahrnehmung. Danach wurde er dauerhaft krank. Sicher bei manchen schwierigen Kindern habe er streng sein müssen, aber oft genug sei er gerufen worden, wenn die Betreuerinnen nicht mit den Kindern fertig wurden. Wenn er jetzt in den Ruhestand gehe, könne er nicht mehr beweisen, daß die Vorwürfe zu unrecht seien. Die Frauen hätten ab und zu Kinder geschlagen, waren danach ohne Schuldgefühle putzmunter. Er realisierte, wenn er mal ein Kind geschlagen hätte, dann hätten sie Verständnis gehabt. Er hätte einen nachweisbar Schwäche gezeigt. So konnten sie ihm eigentlich nichts vorwerfen und deswegen sei es für ihn um so unverständlicher, daß gerade deswegen Vorwürfe kämen. Er hätte sich die Vorwürfe zu lange gefallen gelassen, und gute Miene zum bösen Spiel gemacht und deswegen sei er selber schuld. Er war nicht nur mit seinen Schmerzen in einem Rechtfertigungsdruck, sondern auch gegenüber seinen Kolleginnen und konnte deswegen das Feld nicht räumen.

Zur Therapie

Bedrohliche Vorerfahrungen wie Katastrophen und Krankheiten, die dazugehörigen Mechanismen und Automatismen und Zukunftsentwürfe, haben sich tief in die Neurone eingegraben. Sie sind also nicht ohne weiteres aufhebbar, vor allem je intensiver und länger sie engrammiert sind. Jedoch zeigen die psychotherapeutischen Erfahrungen und die naturwissenschaftlichen Erkentnisse der Neurobiologie über die Plastizität des Gehirns, in meinen Augen dabei an einem gemeinsamen Strang ziehend, daß Veränderungen durchaus später noch möglich sind. Inwieweit hängt von vielen Faktoren ab.

Anderweitige Erfahrungen bedürfen längerfristiger Konsolidierungen. Sollte dies schnell geschehen, müssen längerfristige Vorbahnungen erfolgt sein. Dazu ein Beispiel: Eine Patientin erzählte in der ersten Stunde von den Konflikten mit ihrer Chefin. Ich sagte ab und zu etwas dazu. Nach einer halben Stunde sagte sie plötzlich " sie wollen wohl sagen, es gibt manchmal Menschen, mit denen kann man einfach nicht und das sollte man akzeptieren! " An etwas derartiges hatte ich nicht im entferntesten gedacht. Aber mir war im demselben Moment klar, daß sie das erwünschte Ziel erreicht hatte und die Therapie beendet war. Die Patientin hatte schon längst selber diese Einsicht vorbereitet und bedurfte nur eines Wortes eines Dritten, daß sie selbst ihm in den Mund legte. Sicherlich waren in der Übertragung auf die Chefin die Probleme mit der Mutter nicht geklärt worden, aber vorläufig hatte sie für sich eine Lösung gefunden.

Manche Krankheiten lösen sich von selbst durch neue Erfahrungen und Erkenntnisse oder positiver Einflußnahme und positive Darstellung anderer. - Dabei denke ich an eine Situation in einer Gruppe, wo eine Patientin ihre Sorgen und Ängste geschildert hatte und ein anderer Patient sie fragte, was ihre daran denn konkret Angst mache, und nach ihrer Schilderung sagte er ihr, "das würde ihm überhaupt keine Angst machen!". Ich spürte sofort die positive Wirkung auf die Patientin, die ich als Therapeut sicherlich nicht erreicht hätte. Manchmal kommt heraus, daß Therapeuten in ihrer Aussage nicht ernst genommen werden, weil Patienten glauben, sie würden das nur aus therapeutischen Gründen zur Stabilisierung und Hilfe des Patienten sagen, aber als Mensch nicht wirklich meinen, da sie sich nicht vorstellen können, daß jemand eine andere Meinung hat als sie. - Beim Krankheitsgewinn durch Dritte können diese jedoch an Fortschritten des Kranken nicht interessiert sein und ihn blockieren.

Falls ein Fortschritt nicht gelingt, und dazu ist meist ein längerer Zeitraum der Erkrankung - oft wird von sieben Jahren gesprochen - notwendig, kann die Hinzunahme eines Fachmannes, wie eines Psychotherapeuten hilfreich sein. Dessen therapeutische Schritte sind etwa, die hinter organischen und psychosomatischen Krankheiten steckenden unterdrückten Gefühle als Folge und Begleiterscheinung der Wahrnehmung wahrnehmbar zuzulassen. Diese sind jedoch deswegen unterdrückt und unbewußt, da die psychischen Schmerzen öfter bedrohlicher als die körperlichen Folgen erlebt werden. Ein körperlicher Schmerz ist etwa nicht so bedrohlich wie ein psychischer Schmerz und wird oft genug im Umfeld eher akzeptiert. Meist handelt es sich um eine Kränkung oder Verletzung, also Herabsetzung des Selbstwertes wie Peinlichkeit, Schande, Scham oder Schuld. Die Inhalte der Bedrohung, also die zugrunde liegenden Bilder sind herauszuarbeiten und zu betrachten mit dem Ziele, sich in dieser Betrachtung neu zu orientieren. Die Neuorientierung kann nur durch eine emotionale Erfahrung erfolgen, d. h. die neue Realität muß mit den emotionalen Begleiterscheinungen akzeptiert werden. Der Schlüssel ist meist Erstaunen, Überraschung oder Verwunderung, es ist etwas ganz anders, als immer geglaubt wurde, etwa andere denken anders als er oder erwarten das gar nicht, wie er immer geglaubt hat. Dem steht entgegen, daß jeder Mensch in seiner Wahrnehmung recht haben will. Besonders schwierig ist dies bei Menschen, denen früher eine andere und fremde Realität unterstellt, zugeschoben, übergestülpt oder vermittelt wurde, wie oben oft genug dargestellt. Sie müssen sich oft gegen sämtliche andere Wahrnehmung sträuben, auch wenn diese für sie von Nutzen ist.

Und ein stigmatisierter wertloser Mensch wie ein Versager hat auch in der Zukunft geringe Chancen. Der weitere Zukunftsentwurf spielt also eine entscheidende Rolle. Es wird also die eigene Sichtweise und Wahrnehmung der eigenen Person mit der Wahrnehmung anderer Personen gleichgesetzt, so als ob alle Personen das Gleiche wahrnehmen, denken und tun. Insofern geht die zwischenmenschliche Differenzierung verloren. Der psychische Schmerz kann auch etwa der Verlust eines Partners, ein Auseinanderbrechen der Familie oder eines erhofften Lebenszieles sein. Es muß also zuerst die Bedrohung durch diese Wahrnehmungen und Gefühle aufgehoben werden. Dies ist jedoch oft nicht direkt möglich.

Die Aufhebung der Bedrohung kann im nächsten Schritt durch sicherheits- und haltgebende Strukturen erfolgen. Die Wahrnehmung anderer früherer Erfahrungen, die durch die Bedrohung verloren gingen, und die Ausarbeitung eigener persönlicher Sichtweisen und die Möglichkeit anderer Sichtweisen oder Horizonte können nützlich sein bzw. sind notwendig. Diese müssen jedoch in die eigene Erfahrung passen und im Weltbild wahrnehmbar sein, ansonsten werden sie nicht akzeptiert, und es besteht die Gefahr des Zerbrechens des eigenen Weltbildes. Die Erinnerung anderer Erfahrungen und die Wahrnehmung anderer Aspekte und Sichtweisen kann im hier und jetzt erfolgen, sodaß sich neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Außerdem kann der Rückgriff auf andere positive Erfahrungen, die im Zustand der Bedrohung nicht rekrutierbar waren, wo alle Differenzierungen verloren gingen, hilfreich sein. An diese kann der Therapeut erinnern. Weiterhin kann helfen, sich die Prägungen durch frühere Erfahrungen und durch das Umfeld zu vergegenwärtigen, da der Erkrankte meist die Verantwortung und Schuld an sich selbst erlebt. Diese Selbstwahrnehmung wird allerdings häufig auf andere Personen projiziert. Die Erinnerung der Kindheit und die Betrachtung der prägenden Primärpersonen und deren Hintergründe, Zusammenhänge und demzufolge Motivationen kann weiterhin nützlich sein.

Gegenübertragung

Wie jeder andere Mensch reagiert der Therapeut/in auf die Befindlichkeit, die Gefühle und Darstellung anderer Menschen also auch des Patienten. Argelander spricht von Szene. Die inneren Reaktionen des Therapeuten nennt man Gegenübertragung, obwohl dieser Begriff nicht ganz korrekt ist. Er müßte sich auf die Übertragung des Therapeuten auf den Patienten infolge eigenen frühkindlicher Erfahrungen, die jeder Therapeut selbstverständlich hat, beziehen. So kann der Therapeut von der Gefühlsseite her mit Freude, Ärger, Wut, Angst und Schuldgefühlen, aber auch mit Müdigkeit, Überforderung, Überdruß, Lästigkeit, Sorgen und Mitleid oder mit eigenen Bildern oder Fantasien und eigenem Handeln, dem Handlungsdialog oder negativ ausgedrückt Gegenübertragungsagieren, reagieren. Die Gegenübertragungen auch in Handlungsdialog halte ich für das wichtigste therapeutische Instrumentarium.

Zu Erfahrungen mit eigenen Gegenübertragungsgefühlen und Bildern möchte ich Beispiele anführen.

Die Freude über Fortschritte das Patienten kann beim Therapeuten sich bald mit Sorge vermischen, ob das gut gehen könne oder ob die Fortschritte Bestand haben würden. Dies kann dann Ausdruck für die Innenbefindlichkeit des Patienten sein, dem sich selber zur Freude je nach seiner Assoziationskette Ängste hin zu mischen und die Freude vermiesen. Für den Therapeuten gilt es jedoch zu unterscheiden, ob die Sorge vom Patienten oder von den eigenen Sorgen und Ängsten des Therapeuten herrührt. Zur Selbstbetrachtung der eigenen Person und in der Therapie hat er eine längere Ausbildung in der Lehranalyse und Supervision gemacht. Trotzdem ist eine Differenzierung oft schwierig.

Ärger und Wut können im Therapeuten leicht auf Angehörige, aber auch auf den Patienten selbst entstehen. Wenn der Patient etwa Angehörige oder Partner, Chefs oder Kollegen derartig schlecht schildert, kann sich der Ärger des Therapeuten leicht auf den Patienten richten und das Umfeld wird hochgehalten. Manchmal wurde ich auf einen grinsenden Patienten schwer wütend und konnte mir gut vorstellen, wie etwa der Vater zur Weißglut gebracht wurde. Ich interpretiere meine Wut als die ursprüngliche Wut des Patienten auf das Umfeld wie den Vater und als seinen Vergeltungsakt. Dies gilt es auf den Patienten und seine ursprüngliche Wut zurück zu spiegeln. Wenn der Patient den Vater bis zur Weißglut ärgerte, steht oft eine geheime Union mit der Mutter dahinter, worauf der Patient höchst ungern hingewiesen wird. Als Hintergrund wurde er als Sohn von der Mutter vorgeschoben und bekam den väterlichen Ärger ab oder führte stellvertretend für die Mutter ihren Kampf gegen den Vater aus. Der Therapeuten muß sich hüten, seinen Ärger am Patienten abzulassen und diesen etwa zu entwerten. Dies kann um so leichter geschehen, wenn er sich die ursprüngliche Situation vergegenwärtigt. Infolge seiner Erfahrungen kann der Patient oft dem Therapeuten seine Gelassenheit nicht abnehmen.

Wenn der Therapeut die Angst des Patienten übernimmt, neigt er leicht zum Handlungsdialog etwa Medikamente zu verschreiben oder weitere Untersuchung zu veranlassen und weiter zu überweisen. Etwa neigt ein Arzt bei einem Herzphobiker, der trotz aller Untersuchungen einen Herzinfarkt fürchtet, dazu, selber Angst zu bekommen, doch etwas übersehen zu haben, und weitere Untersuchungen zu veranlassen. Manche Patienten lassen sich auch dadurch nicht beruhigen, da die Ursachen ganz woanders liegen etwa bei einer Verlustangst. Andere fühlen sich schon durch die Anwesenheit des Arztes und dessen beruhigenden Zuspruch gerettet. So sage einmal ein Kollege, als sein Auto defekt war und der Reparaturdienst kam, ihm gehe es wie einem Herzneurotiker, der allein schon durch die Ankunft des Arztes beruhigt sei.

Wenn sich der Krankheitszustand des Patienten verschlechtert, kann der Therapeut zu Schuldgefühlen neigen, ob er nicht doch etwas übersehen hat, in falscher Weise Deutungen angebracht, überhaupt Behandlungsfehler gemacht habe. Oft ist dieser Rückschritt eine Folge des Fortschrittes, dem der Patient sofort mit einem Rückschritt beantwortet. Dabei steht meist eine Zerstörung von Expansionsschritten des Kindes von Seiten des primären Umfeldes dahinter. Auch gelingt es dem Patienten oft seine eigenen Schuldgefühlen nach außen zu delegieren, etwa dem Therapeuten dezidiert nachzuweisen, welche Fehler er gemacht habe, so wie er es in seiner Primärbeziehung gelernt und verinnerlicht hat und es folglich auch in anderen Beziehungen macht. Zu seiner eigenen Hygiene und zur Vergegenwärtigung der Problematik des Patienten ist es also für den Therapeuten am wichtigsten, sorgfältig die eigene Innenbefindlichkeit zu betrachten und auf den Patienten und sich selbst hin abzuklopfen. Als therapeutischen Schritt kann dies der Patient für sich in anderen Beziehungen einüben, besonders wenn er etwa Schuldgefühle entwickelt.

Überdruß und, daß der Patient mir lästig wird, entwickele ich oft bei angstneurotischen Patienten, wenn sie immer die gleichen Konflikte und Streitigkeiten erzählen und sich wenig Veränderungen ergeben. Oft entsteht der Überdruß schon bevor der Patient diese Beziehungskonstellationen geschildert hat. Die Rückspiegelung auf den Patienten ergibt, daß es ihm ähnlich ergeht, immer die gleichen Streitigkeiten ohne Lösungen. Die Folge ist für ihn, daß er aus diesem Milieu eigentlich entfliehen möchte, aber aufgrund von Verlust- und Autonomieängsten, Loslösungsschuld, die anderen im Stich zu lassen, Versorgungs-, Dankbarkeits- und Vergeltungsansprüchen nicht kann. In diesem Zwiespalt entwickelt er die Angst oder etwa eine Herzsymptomatik. In der Nähe kann er sich nicht behaupten und die Entfernung ist von Verlustängsten begleitet.

In Mitleid suhlen sich manche, die meisten sind tief verletzt, da in ihrem Souveranitätsbild ihre Schwäche, Versagen und im zwischenmenschlichen Vergleich untere Ebene zum Ausdruck kommt. Und auch diejenigen, die sich darin wohl zu fühlen scheinen, müssen auf der unteren Ebene gekränkt sein, da sie durch ihr Leid andere über sich erheben. Im Angesicht des anderen Mitleid zu zeigen, ist nur in akzeptablen äußeren Umständen wie das Leiden unter dem Verlust oder der Krankheit anderer unproblematisch.

Für den Therapeuten schwierig zu ertragen sind Langeweile und Müdigkeit bis zum Kampf gegen das Einschlafen. Da hat es der Analytiker hinter der Couch gut. Ihn kann der Patient nicht sehen. Diese beiden Befindlichkeiten treten meist auf, wenn der Patient immer dasselbe erzählt oder eine Art Monolog ohne Adresse hält und seine Aggressionen evtl. zur Erhaltung einer guten Beziehung unterdrückt. Seine Befindlichkeit hat der Therapeut auf die möglichen Hintergründe des Patienten abzuklopfen und dadurch wird er wieder lebendig. Ertragen ist meiner Ansicht nach der falsche Weg, nur, solange man es nicht besser weiß. Therapien können dadurch furchtbar anstrengend werden, ähnlich wie das Leben des Patienten. Ich spreche gerne von einer inneren Lähmung, die sich auf den Therapeuten überträgt, also als Ausdruck des inneren Zuhörens, wenn man nicht mehr zuhören kann. Dem Therapeuten geht es also ähnlich wie seinem Patienten. Wenn der Therapeut seine Befindlichkeit, möglichst mit vermuteten Hintergründen und dem inneren Dilemma des Patienten zur Sprache bringt, kommt sowieso Leben in die Bude. Problematisch wird es dadurch, daß sich später die Angst und Aggression des Patienten und folglich seine innere Lähmung in den nächsten Sitzungen wieder aufbaut, und er Angst hat, sich erneut einzubringen und den Therapeuten zu langweilen.

Dazu ein Fallbeispiel einer Stundensequenz zum Thema der Müdigkeit des Therapeuten in der Gegenübertragung:  Ich wurde dermaßen müde bei dem Gerede bzw. (im Wortgebrauch vieler ) "Gelabere" einer MS-Patientin, konnte kaum zuhören, wartete aber erst mal ab, bis sie selbst wütend ihre Wahrnehmung meiner Befindlichkeit zur Sprache brachte. Ich spiegelt meine Reaktion auf ihr Inneres zurück, meine Müdigkeit im Sinne einer inneren Lähmung als Antwort auf ihre innere Lähmung. Daraufhin sagte sie spontan , sie habe doch keine unterdrückten Aggressionen und sprach von meinem heroischen Kampf gegen das Einschlafen. Ich bemerkte, daß ich es kenne, MS-Kranke führen oft einen heroischen Kampf in einer Dulderhaltung gegen ihre Krankheit und werden dafür von ihrem Umfeld bewundert. Plötzlich erinnerte sie sich und schilderte einen Vorfall vom Vortag und äußerte ihre Wut. Sie war von einem Autofahrer bis nach Hause verfolgt worden und dann hatte er die Polizei gerufen, die sie kontrollierte, aber in Ruhe ließ. Ich führte mir den möglichen Ablauf vor Augen: Der andere Autofahrer hatte sie in ihrem wegen der fortgeschrittenen MS schwankenden Gang ins Auto einsteigen sehen, seine Wahrnehmung fehlinterpretiert und sie für betrunken gehalten, wohl gemeint, sie stelle eine Gefährdung für die Umwelt dar und die Polizei benachrichtigt. Diese mögliche Erklärung war für sie zuerst entlastend. Sie meinte, ihr Neurologe hätte ihr auf ihre Bedenken hin gesagt, andere würden den Gang schon richtig einordnen. Ich meinte, viele ja, aber offensichtlich manche nicht.

Dabei erinnere ich mich an manche Angstpatienten mit Schwindelzuständen auf der Strasse, die fürchten, für betrunken gehalten zu werden, das sei äußerst peinlich, so daß sie sich kaum auf die Strasse trauen und ihnen bei dem Gedanken ganz schwindlig werde. Die Angst vor dem Schwindel, den Reaktionen des Umfeldes, der Peinlichkeit führt zu Schwindel. Manche artikulieren noch Aggressionen auf das Umfeld, so schlecht angesehen zu sein.

Später kamen mir infolge dieser Zwischengedanken zu der MS-Patientin weitere Gedanken: Durch die mögliche Fehlinterpretation trotz Zusicherung des Neurologen muß sie das Vertrauen in die Umwelt verloren haben, außer daß sie von ihrer Mutter sowieso fast nur negative Reaktionen kannte, diese also in ihr steckten, und vermehrt Angst auf der Straße haben. Folgerichtig kam sie nicht zur nächsten Stunde und sagte ohne deutliche angebbare Gründe ab. Meine Lähmung hat natürlich auch mit meinen eigenen Aggressionen über ihr Gelabere zu tun, die ich automatisch unterdrückte, da ich ihr hilfreich zuhören wollte, die aber mit ihrer Situation zu tun hatten. Da sie oft unterdrückte Aggressionen hat, tritt diese Lähmung oft am Anfang der Stunde auf. Ihre Redeweise kommt mir wie ein monotoner Monolog vor, ohne Adresse oder Ansprech- Dialogpartner. Dies erkläre ich mir, daß ihre Mutter ihr oft nicht zugehört hat oder negativ reagierte, sodaß sie aus Angst sich schon gar nicht mehr richtig an sie und spätere Partner wendet bzw. eine Art Zwischenstadium zum Dialog führt, weil sie ja etwas mitteilen, einen Zuhörer haben möchte oder es einfach für sie zur Stunde dazu gehört, etwas zu sagen und sich nicht anzuschweigen, andererseits aber die Mitteilung aufgrund früherer Vorerfahrungen fürchtet. Da sie ja ihre Dialogform schon seit langem kennt und ihr oft ähnliche Reaktionen wieder fahren sind, steht sie unter starkem Druck aus Angst vor Wiederholungen und aus Angst vor ihren Aggressionen und denen anderer.

Mir geht es oft so, daß ich selbst mich nach den inneren Bildern des Patienten fühle bzw. mir so vorkomme. Zum Beispiel wenn ich dem Patienten Dinge, Inhalte oder Beziehungen darstelle, die nicht in sein inneres Weltbild passen, komme ich mir vor wie ein Märchenerzähler. Offenbar reagiere ich auf seinen inneres mit meiner eigenen Selbstwahrnehmung. Etwa einem Patienten, der langwierig unter massiven Rückenschmerzen leidet und deswegen länger arbeitsunfähig ist, komme ich mir wie ein Märchenerzähler vor, wenn ich ihm erzähle, daß es bei vielen Menschen so etwas wie Arbeitsfreude oder Lust bei der Arbeit gebe. Dies paßt überhaupt nicht in sein Weltbild. Oder umgekehrt kommen mir Patienten vor, wenn sie ihre innere Welt darstellen, als ob sie in meiner inneren Metapher auf dem Mond leben. Bei der Annahme meiner dargestellten Realität tritt Erstaunen auf. Das Erstaunen ist für mich, zumindest ein stückweit, ein Anzeichen der Annahme der neuen Realität.

In der Gegenübertragung ist mir die Wahrnehmung der verschiedenen Schichten, der oberen Verstandesschicht und der unteren Gefühlsschicht auffällig. Zum Beispiel erzählt ein Patient Zusammenhänge, die ich als realistisch gut nachvollziehen kann, erzählt sie aber so, als ob er Märchen erzähle, die er selbst nicht glauben könnte. Ich erkläre mir den Zusammenhang so, daß auf der Verstandesschicht etwas glaubhaft schilderte, was aber nicht zu den Wahrnehmungen und Definitionen  seiner unteren Schichten paßt.

Zu den situativen Einfällen und Bildern des Therapeuten möchte ich folgendes Beispiel bringen: Ein Patient mit Ängsten und entsprechenden körperlichen Begleiterscheinungen erzählte mir, nach einer externen Tätigkeit habe er sich auf der Rückfahrt im Auto erst sehr wohl gefühlt, dann sei er immer mehr in Spannungen geraten und zu Hause habe er sich von seiner Ehefrau eine rechts und links runter hauen lassen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Ich ließ mir die Abfolge durchs Gemüt gehen und in mir tauchte das bild eines Jungen auf, der sich von seiner Mutter im vorauseilenden Gehorsam Ohrfeigen für seine Schandtaten verabreichen ließ. Spontan fragte ich, was er denn angestellt habe, woraufhin er reumütig erklärte, er habe solche Schuldgefühle, da er sich auf dem Hotelzimmer Pornofilme angeschaut habe, die auch noch Spaß gemacht hätten.

Über die Nachträglichkeit

Da viele Wahrnehmungen und darauf folgende Handlungen automatisch und reflektorisch ablaufen, sind sie im vorhinein nicht berechenbar, sondern erst hinterher bzw. nachträglich, dann, wenn sie abgelaufen sind, betracht- und evtl. korrigierbar. Ich gebrauche diesen Begriff also nicht wie Psychoanalytiker hinsichtlich der nachträglichen Bearbeitung von Erinnerungen, sondern als Veränderungs- oder auch Befreiungsschritt, also nicht als eine Nachträglichkeit in der Vergangenheit, sondern als einen Schritt in der Gegenwart und Zukunft.

Im zwischenmenschlichen Dialog fühlt sich der Mensch oft so, wie er beim anderen ankommt, wie ich eben beim Märchenerzähler erwähnt habe. Fühlt er sich in seinen Aussagen vom andern angenommen und bestätigt, fühlt er sich gut, fühlt er sich nicht bestätigt, fühlt er sich schlecht. Insoweit ist jeder Mensch vom anderen in der Zwischenmenschlichkeit automatisch abhängig. Eine Befreiung vom schlechten Selbstgefühl kann nur nachträglich dadurch erfolgen, z. B. sich zu vergegenwärtigen, daß die Bestätigung durch den anderen weniger von den eigenen Aussagen, sondern mehr von den inneren Aussagen und den Auffassungen des anderen abhängt.

Diese zwischenmenschliche Beziehungen spielt sich selbstverständlich auch in Therapien ab. Der Patient hat die Bestätigung in seiner Entwicklung vermißt und deswegen ist der stark auf die Bestätigung durch andere angewiesen. Der Therapeut kann jedoch nicht, wie viele andere Menschen, alle Auffassungen des Patienten teilen. Er muß oft andere Auffassung haben, womit er den Patient nicht bestätigen kann. Insofern gerät er mit dem Patienten in eine innerer Diskrepanz, die zu einer unheilvollen und die Patientenkrankheit fördernden Spirale führen kann, wenn nicht die unterschiedlichen Auffassungen der Aussagen geklärt werden können.

Für Patienten in einem Absoluten Weltbild, d. h. sie können nicht andere Realitäten als ihre eigenen anerkennen, dies würde für sie eine zu große Bedrohung darstellen, reicht es jedoch nicht, wenn der Therapeut sie für sich bestätigt, aber nicht für sich selber, dort ist er anderer Auffassung, sondern er muß ihnen absolut und objektiv recht geben. Ansonsten fühlen sie sich nicht bestätigt, unverstanden und, wer nicht im Recht ist, muß unrecht haben, also auch in der Therapie nicht bestätigt, für sie eine weitere Traumatisierung. Etwa Angstpatienten, die für ihre Ängste überall in der Umwelt Bestätigungen anführen, etwa von Mobbing, Überfällen aus Zeitungsartikeln, abgestürzten Flugzeugen bei Flugangst. Diese fühlen sich wenig angenommen, wenn der Therapeut auf ihre persönlichen Ängste hinweist, aber selber die Bedrohung in seiner Lebensauffassung nicht teilt. D. h. allein das Wort Lebensauffassung ist für sie unverständlich. Es ist so, wie es ist. Noch schlimmer, wenn der Therapeut diese Ängste für lächerlich hält. Der Patient wird schnell woanders sein. Nun leben praktisch alle Patienten mehr oder weniger in einem absoluten und gespaltenen Weltbild, zumindest in den Konfliktbereichen. Sonst wären sie nicht Patienten.

Als Schwierigkeit kommt oft hinzu, daß der Patient in seiner Vernunft oder dem Verstand durchaus verschiedene Auffassungen zugesteht, also auf der oberflächlichen Ebene, aber in seinem Inneren, auf der tiefen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsebene, im unbewußten Bereichen, ganz anders denkt und fühlt und sich dort unverstanden fühlt. Daß er sich auch auf der oberflächlichen Ebene unverstanden fühlt, wo das Innere auch zur offenen Überzeugung wird, zeigt der Angstpatient, wenn der Therapeut dessen Ängste für irrational oder unsinnig hält und das offen zum Ausdruck bringt.

Hinzu kommt, daß der Patient mit seinem Verstand oft mit dem Gegenüber identifiziert ist, und selber seine Ängste für irrational hält und sich selber gar nicht versteht, also in Diskrepanz zu seinem Inneren lebt. Hinzu kommt, daß in der Literatur, die Ängste des Patienten oft genug für irrational gehalten werden. Rational wäre, was objektiv bedrohlich sei. Dabei wird außer acht gelassen, daß die Ängste ganz rational erfaßbar sind auf dem Hintergrund von traumatisierenden Prägungen, oft über Generationen.

Weiterhin kommt hinzu, daß der Patient in seinen zwischenmenschlichen Befürchtungen oft recht hat. Auch bei verschobenen Ängsten wie Phobien spielen zwischenmenschliche Ängste m. E. als Hintergrund eine tragende Rolle. Wenn etwa der Angstpatient die Bloßstellung seiner Ängste und Unsicherheiten befürchtet und deswegen alles tut, um diese zu vermeiden, also besonders selbstsicher und souverän auftritt, ist seine Angst berechtigt, denn andere, selber oft Unsichere - und wer ist das nicht - freuen sich und fühlen sich bestärkt, wenn sie den Starken in Unsicherheiten erwischen. Seine Schwäche trägt also zur Stärkung anderer bei. Oft genug wird auch die Schwäche ausgenutzt. Wer etwa nicht „nein“ sagen kann und Übereinstimmung und Harmonie sucht, wird oft ausgenutzt. Schließlich glaubt der andere, daß es recht sei, wenn nicht "Nein" gesagt wird und fühlt sich in seinen Erwartungen und Ansprüchen bestätigt. Dies führt dann zu weiterer Disharmonie. Ähnlich ist es bei der Angst vor Streit und Auseinandersetzungen. Im absoluten Weltbild wird nämlich erbittert um richtig oder falsch, Recht und Unrecht gestritten, sodaß die Angst berechtigt ist. M. E. spielt bei allen Ängsten die Angst vor Auseinandersetzungen eine tragende Rolle.

Eine Klärung der unterschiedlichen Wahrnehmungen, Standpunkte und Interessen kann m. E. nicht im Vorhinein, sondern erst nachträglich erfolgen. Die innere zwischenmenschliche Automatik beider Seiten, Inhalte in bestimmter Weise aufzufassen ist also oft das Mißverständnis. Die Klärung und die Befreiung aus diesem kann also erst in der Nachträglichkeit erfolgen, etwa in der Form, daß der Therapeut dem Patienten darstellt, daß für ähnliche oder gleiche Inhalte und Sachverhalte unterschiedlicher Aussagen und Auffassungen bestehen können. Der Patient hat für sich, seine innerer Aussage und Auffassungen recht, aber jedoch nicht für andere und den Therapeuten. Insofern bekommt er wiederum in subjektiver Sichtweise seine dringend erforderliche Bestätigung. Dadurch kann der Patient in der therapeutischen Beziehung lernen, die er auf andere zwischenmenschliche Beziehungen übertragen kann, daß jeder für sich recht hat bzw. in seiner Auffassung richtig liegt.

Dies ist jedoch einer äußerst schwierige innerer Leistung, die erst allmählich in immer neuen Schritten und Situationen erfolgen kann, bis sie sich langsam und allmählich in die tieferen Schichten der Psyche verankert. Viele Patienten sagen mir, das sei für sie zu schwierig, es widerlaufe allen ihren Überzeugungen. Ich verweise darauf, daß ohne diese Differenzierungen das Leben für sie wie in der Vergangenheit noch schwieriger verlaufe. Die tieferen Einsichten und die tieferen Verankerung ist das entscheidende, während oberflächliche Sichtweisen nutzlos sind. Ich verweise auf den Satz des Patienten, der mir erklärte, er glaube mir zwar, aber in der Tiefe seines Inneren glaube er mir nicht.

 

Hintergründe von Abwehr und Widerstand in der Therapie

Neben allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Widerständen gegenüber allem, was mit der Psyche zu tun hat,  wie Peinlichkeit, Scham und Schande, ein Psychokrüppel, Simulant oder ein eingebildete Kranker zu sein, und andere Stigmatisierungen, spielen einer Reihe anderer Faktoren eine ausschlaggebende Rolle, von denen ich einige zu erfassen versuche.

Zuerst einmal möchte ich einen Patienten gegen Ende einer langjährigen ambulanten Therapie nach vorheriger stationärer Behandlung,  währendessen er erfolgreich seinem Beruf nachging, aber alle Kontakte zu Frauen massiv behindert  sind und waren, zu Worte kommen lassen, da in meinen Augen viele Aspekt angesprochen werden:

Nach einer unruhigen Nacht und anschließenden Kopfschmerzen verspüre er seine Wut, seinen Widerstand und Trotz. Dieser stelle für ihn einen Rest Selbstbehauptung dar, so als ob er sagen wollte, „ihr wollt, alles ist in Ordnung, ich spiele nicht mit“. Innerlich laufe ein Programm ab, er solle tun, als ob alles in Ordnung sei. Er habe das Bild früherer Einschränkungen, "tu das und das nicht", irgendwo wurde er immer getreten. Diese Traumatisierung sich ein zugestehen, davor habe er Angst, daß er nicht mehr herauskomme und alles zementiert werde. Er sei verwundert, daß er verletzt und verwundet sei und sich dagegen wehre. Wenn er seine Mutter auf die Traumatisierung hinweisen würde, würde es heißen, "nein so schlimm war das nicht". Der Trotz gelte dieser Abwiegelei. In der Therapie verspüre er einen Widerstand, sodaß die paradoxe Situation entstehe, daß der Therapeut für ihn und er gegen sich rede.

Er berichtet, er sei das letzte Mal mit Wut auf sich selbst heraus gegangen, weil er sich selbst mißachte, nicht möge, fertig mache, eine Strenge mit sich selbst, er sei ein Versager, sei nichts wert.  Er habe geglaubt, weil er nicht geliebt werde, die positive Zuwendung nicht erhalten habe, das müsse an ihm liegen und er sei nichts wert. Gleichzeitig habe er Wut auf sich, daß er das alles geglaubt habe. Ihm falle es jetzt so schwer, das Idealbild der Eltern aufrecht zu erhalten, habe Angst, daß dieses zerbrösele. Im Idealbild hätten die Eltern ihm Sicherheit, Stärke und Stütze gegeben, so als wäre er noch von ihnen abhängig. Um geliebt zu werden, müsse er Leistung erbringen. Das übertrage er auf die Arbeit und in der Therapie, Leistung für die Anerkennung und Liebe. Er bemühe sich, und wenn er gelobt werde, könne er sich nicht freuen, weil das Lob nicht in sein Weltbild passe und nicht ihm, sondern seiner Fremdanpassung  und somit nicht ihm gelte. Diese entfremdete Arbeit für andere und nicht für sich selbst, sei dann ein Zwang, dem er sich wiederum entziehe. Daß die Eltern in ihm nicht ihn, sondern sich selbst, ihre eigenen Bewertungen gesehen haben, gegen diese Realisierung sträube er sich, das könne nicht sein, er verweigere sich der Erkenntnis, könne es nicht glauben, denn dann müsse er allen Lohn aufgeben. Auf diesen beharre er, und wenn er sich auch noch so sehr bemühe. Sonst habe er Angst, sich zu verlieren, daß sein ganzes Weltbild zerbreche und er sich auflöse. Wenn er nicht die Identität der Eltern habe, habe er gar keine mehr, sei nichts mehr. Offenheit, sich selbst finden und gestalten, ausprobieren, das Fließende, gebe es für ihn nicht. Dagegen müsse er feste Bilder setzen, alles schon vorher wissen und gestalten, sonst habe er Angst. Er könne nicht Hoffnung und Neugier verspüren. Schon das Wort Neugier sei ein Tabu.

Dann habe er Momente, wo er nachdenke, woher die Eltern das alles hätten, das sei wie eine Erleuchtung. Die Eltern seien selber unsicher gewesen, hätten ihm keinen Halt, Boden vermitteln können. Dagegen wehre er sich, weil Verlassensein, nicht geliebt werden, in der Luft hängen in ihm auftauche. Ihr Idealbild schütze ihn, dafür nehme er sie in Schutz. Vielleicht habe er noch die Hoffnung, doch noch was zu kriegen, das wolle er nicht aufgeben, weil er sich nicht zutraue, sich selber was zu geben. Das sei eine Sehnsucht, und gleichzeitig habe er die Erfahrung der Enttäuschung. Er habe nur Vorschriften, Gebote und Verbote, Warnungen und Drohungen, und das alles wohlmeinend zu seinem Besten, erhalten. Er suche den Boden bei den Eltern und nehme seine eigenen Möglichkeiten nicht wahr. In ihm stecke auch, die Eltern zu bestrafen oder sich zu rächen nach dem Motto „geschieht denen recht, daß es mir so schlecht geht!“. Auch habe er Angst vor seiner Traurigkeit, die wie ein Kloß in seinem Hals stecke, eine Sehnsucht, die nicht gestillt werde. In der Idealisierung der Eltern, ihrer Vergöttlichung steckten auch seine Schuldvorwürfe „wenn sie nur gewollt hätten, hätten sie gekonnt!“. In dem Nichtgeliebtwerden stecke eine große Kränkung, er werde nicht wahr genommen im doppelten Sinne, einmal werde er nicht gesehen und ihm nicht geglaubt, gleichzeitig ein Unglaube über die Kränkung und Mißachtung. Langsam tauche in ihm auf, daß er sich mehr selber möge.

 

1. Die Frage der Realität:  Wie oben erwähnt glaubt der Patient oft seinen prägenden Bezugspersonen mehr als sich selbst. Sie haben für ihn eine stärkere Realität. Der Patient spürt seine Schmerzen, aber er ist anfällig dafür, seine Wahrnehmung zu verlieren, etwa wenn die Eltern sagen, daß es nicht so gewesen ist und sie immer das Beste für ihn getan haben, so daß es ihm unmöglich ist oder schwer fällt, seinen Standpunkt und seine Wahrnehmung aufrechtzuerhalten. Es entsteht die Identifikation mit dem Aggressor. Dadurch entsteht ein Falsches Selbst.

2. Untergründig entstehen unterdrückte Wut und Trotz. In diesem Trotz wehrt er sich zu seinem eigenen Schaden gegen sein Wohlergehen und die Wut richtet sich gegen ihn selbst, weil die Adresse der Verursachung außen fehlt, sondern durch die Prägung bzw. Verinnerlichung sich in ihm selbst findet. Diese Autoaggression stellt wiederum eine ursprüngliche Aggression gegen die Eltern dar.

3. Wut und Trotz führen zu Verweigerung, Sabotage, Bestrafung der Eltern und Rache an den Eltern, die sich hauptsächlich gegen die eigene Person richten, da ja die Eltern Teil der eigenen Person, des eigenen Selbst sind. Also werden Selbstwahrnehmung und -verwirklichung eigener Interessen zum eigenen Schaden behindert, eine Art Masochismus. Gleichzeitig gelingt auch oft genug eine Rache an den Eltern, die unter dem Versagen des Kindes leiden und das Kind als Erwachsener im eigenen Leid triumphiert. Auf diese Rache, den Triumph und die Macht über die Eltern will es nicht verzichten in Ermanglung anderer Lebensmöglichkeiten. Beispielsweise spielt sich dies bei Anorexie und Schizophrenie ab. Zum Verzicht müssen also zuerst andere Lebensmöglichkeiten wahrgenommen werden.

4. Für die Bemühungen um Liebe und Anerkennung, übertragen auf die spätere Welt in Beruf, Partnerschaft, Freundeskreis und eigene Familie, doch noch den erhofften Lohn zu erhalten und nicht verzichten zu können. Dies kann ein trotziges unendliches Bemühen sein und als Recht eingefordert werden. Die Aufgabe des Lohnes würde ein völliges Scheitern und einen totalen Verlust bedeuten.

5. Die Idealisierung und Vergöttlichung der Eltern bedeuten wie oben aufgezeigt die Illusion eines Schutzes vor der Kränkung und Selbstauflösung, Trotz und Verweigerung, sodaß das Kind seine eigenen Eltern in doppelten Sinne schützt, einmal vor sich selbst, der Aggression des Kindes und die Eltern vor der Kränkung und Desillusionierung und zur Aufrechterhaltung ihres guten Bildes, gute Eltern gewesen zu sein und alles Gute für ihr Kind getan zu haben. Die Eltern als Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern werden somit von beiden Seiten nicht wahrgenommen.

6. Liebe, Anerkennung und Lob können nicht angenommen werden, weil sie im alten Kontext Selbstaufgabe und Fremdbestimmung bedeuten, sozusagen Beifall aus der falschen Ecke. Ein anderer Kontext wird im späteren Leben nicht wahrgenommen, weil durch die Traumatisierung die Differenzierungen verloren gegangen sind. Alles spätere Leben bedeutet eine Wiederholung der Prägungen und früheren Erfahrungen.